Eine Museumsvitrine macht im Handumdrehen jeden beliebigen Gegenstand zu Kunst. Nun kann ich herausfinden, was sie aus einem Alltagsmenschen macht. Ich sitze in dem Schaukasten der aktuellen Sonderausstellung »Die ganze Wahrheit … was Sie schon immer über Juden wissen wollten«. Die Besucher gehen vorbei und wir beobachten uns gegenseitig. Viele lesen den Wandtext, werfen mir einen Blick zu und huschen davon.
Einige bleiben stehen, in sicherem Abstand. Ich räuspere mich, lächele einladend, deute auf den Button an meiner Bluse »Ask me, I’m Jewish«. Qualifiziert für diese Rolle, so die Rede zur Vernissage, habe mich die Behauptung, ich könne »die ganze Wahrheit« über die Juden verraten. Wird jemand danach fragen? Der Abstand verringert sich allmählich. Ein Mann will wissen, was die Exponatenbeschriftung am Schaukasten besagt – er hat seine Lesebrille nicht dabei. »Spezies: Diasporajüdin, Subspezies: Osteuropajüdin, Variante: Bananenjüdin«. Danke, sagt der Mann und geht rasch davon. »Bananenjüdin? Nie gehört«, sagt eine Frau. So wurden in Polen Juden genannt, erkläre ich, die von den Verwandten aus dem Westen mit Zitrusfrüchten und Bananen versorgt wurden.
Zögerlich kommen weitere Menschen hinzu, die Gruppe vor meinem Kasten wird größer. »Darf man zu einem Sederabend Blumen mitbringen?« »Kann man eine Vorhaut wieder annähen?« »Haben Juden spezifische, genetisch übertragbare Krankheiten?« »Kannst du Josef Joffe dazu bringen, für die Jüdische Allgemeine zu schreiben?« (Aha, ein Jude – der hat natürlich keine Frage, sondern einen Auftrag.) »Was wird bei einer Bar Mizwa gelesen?« »Finden Sie, dass Israel die Homo-Ehe zulassen sollte?«. Der Schaukasten macht aus seinem Insassen eine Instanz. Ein Mann fragt nach meiner Meinung zur Zypernkrise (ich versichere auf alle Fälle, dass ich sie nicht verschuldet habe). Schade, dass meine Töchter diesen Zuwachs an Autorität nicht sehen können. »Produziere dich nicht, gib keine Ratschläge, versuch nicht, lustig zu sein und schon gar nicht auf unsere Kosten« – so ihre Anweisungen für den Abend. Ich beschließe, den Button »Ask me…« auch zuhause zu tragen.
Ein Zuruf aus dem Hintergrund: »Was sagen Sie, wenn Sie keine Antwort haben?!« Ich stehe auf und erzähle die Geschichte von dem geltungsbedürftigen Kutscher, der einen reisenden Rabbiner überredet, in der nächsten Stadt die Rollen zu wechseln. Der falsche Rabbi wird mit allen Ehren empfangen, bewirtet – und mit einer heiklen Talmudfrage konfrontiert. Mit dem Ausdruck gequälter Würde winkt er den echten Rabbi herbei: »Für einfache Fälle ist mein Kutscher zuständig!« Er könne den Kutscher spielen, biete ich dem Zurufer an.
Die Fragen schießen jetzt aus mehreren Richtungen: »Glauben Juden an ein Leben nach dem Tod?« »Was vereint alle Juden?« (Natürlich, dass sie nicht vereint sein wollen.) »Brauchen Sie nicht mal eine Pause?« – der Fragende betreut Obdachlose im Café-Platte. Ich frage zurück: »Was hat Sie in die Ausstellung getrieben?« »Sind die Juden etwas besonders?« Eine Frau: »Ja, wie alle Menschen«. Die Besucher reden mittlerweile auch miteinander und ich höre zu – der Infostand wird zum allgemeinen Austauschort. Ein Mann in den Sechzigern, der still zugeschaut hat, tritt näher. Leise erzählt er, seine Mutter habe ihm auf dem Sterbebett verraten, dass er der Sohn eines jüdischen Kaufmanns sei. Eine Frau, die vor zwanzig Jahren von ihrem jüdischen Freund verlassen wurde, weil er eine Nichtjüdin nicht heiraten konnte, fragt, was ich davon halte. Womöglich hat der Kasten auch etwas von einem Beichtstuhl oder einem Analytikersessel. Als ich ihn nach zwei Stunden verlasse, diskutieren etwa zwanzig Menschen davor. Die letzte Frage kommt von einer jungen Frau: »Darf ich mich jetzt hineinsetzen?« Sie will mal kurz Möchtegernjüdin sein.
Die »ganze Wahrheit über die Juden« wollte niemand wissen.
Olga Mannheimer, Journalistin
Schade, dass ich nicht dabei war. Klingt sehr spannend!