In der Woche vom 21. bis 27. Oktober 2013 finden in der Akademie des Jüdischen Museums Berlin Lesungen, Workshops und ein Publikumstag unter dem Titel »VielSeitig. Eine Buchwoche zu Diversität in Kinder- und Jugendliteratur« in Kooperation mit Kulturkind e.V. statt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Abteilungen haben dafür zahlreiche Bücher gelesen, diskutiert und ausgewählt. Einige dieser Bücher sollen in den nächsten Monaten hier vorgestellt werden.
Das Cover des Jugendbuches Die Zeit der Wunder zeigt ein Mädchen, das im seichten Meerwasser auf einem Fass balanciert. Ein schönes, melancholisches Cover, finde ich. Allerdings passt es nicht zum Buch. (Denn Strand kommt keiner vor und die Hauptfigur ist ein Junge.)
Meine zwölfjährige Tochter, der ich das Buch in die Hand drücke, findet, es sehe aus wie ein Buch für Erwachsene. Meine Frage, ob das nun gut oder schlecht sei, wird mit einem Schulterzucken beantwortet.
Never judge a book by its cover.
Also aufschlagen und lesen:
»Ich heiße Blaise Fortune und ich bin Bürger der Französischen Republik. Das ist die reine Wahrheit.
An dem Tag, als die Zollbeamten mich hinten im Lastwagen fanden, war ich zwölf Jahre alt. Ich roch so schlecht wie Abdelmaliks Müllhäuschen.
Obwohl Monsieur Ha sich alle Mühe gegeben hatte, den offiziellen Stempel auf dem Foto in meinem Pass wiederherzustellen, glaubten die Zollbeamten nicht, dass ich ein echter kleiner Franzose war. Ich hätte ihnen gerne alles erklärt, aber dafür war mein Französisch zu schlecht. Also zogen sie mich am Kragen meines Pullovers aus dem Lastwagen und nahmen mich mit.«
Was geschah, bevor der Erzähler nach Frankreich kam, erfährt man wenige Seiten später. Ich frage meine Tochter, ob sie das Buch, das sie gerade zu lesen begonnen hat, versteht. »Klar!«, sagt sie und erkundigt sich kurze Zeit später: »Was bedeutet Miliz?«
Die Lebensumstände einer zwölfjährigen Berlinerin und eines Protagonisten, der auf der Flucht ist, so lange er denken kann, könnten unterschiedlicher nicht sein.
Blaise Fortunes Geschichte besteht aus Erzählungen anderer, Geschichten darüber, wer er ist und woher er kommt. Sie sind märchenhaft und handeln von einem Zugunglück, das ein französisches Baby namens Blaise überlebt, nicht aber seine Mutter.
Blaise Fortune erzählt von den Stationen einer Flucht auf dem Kaukasus, von verseuchten Seen, von Kindern, die Drähte aus alten Glühbirnen sammeln.
Seine Geschichte handelt von Liebe und Freundschaft, aber ebenso von brutaler Gewalt, von Krieg und von Angst.
Die französische Autorin Anne-Laure Bondoux erzählt diese Geschichte so, dass sie dem Leser nahegeht, und zwar, weil sie die Frage nach der Zufälligkeit unserer Identität in den Raum stellt.
Was wäre, wenn ich im krisengeschüttelten Tschetschenien geboren wäre? Wenn ich mir Gedanken darüber machen müsste, dass ich möglicherweise am nächsten Tag ein neues Quartier brauche? Wenn ich mich vor Soldaten (Miliz, das sind Soldaten!) verstecken muss, da diese mich töten könnten?
Auch wenn mich die Wendungen der Geschichte weniger überraschten als meine Tochter, zerdrückte ich beim Lesen doch die eine oder andere Träne. Ich fand das Ende hoffnungsfroh, versöhnlich und sehr berührend.
Meine Tochter ist empört: Das soll ein gutes Ende sein? Niemals! (Das Buch gefällt ihr aber trotzdem.) Für junge Leser muss ein Happy End also ein richtig dickes Happy End sein, sonst ist es keines.
Für abgebrühte erwachsene Leser dagegen ist es schon beinahe kitschig, wenn der Protagonist nach jahrelanger Flucht in Frankreich heimisch wird, sein persönliches Glück findet und sich am Ende sogar mit seiner Vergangenheit aussöhnt. (Beinahe so kitschig wie das Buchcover.)
Christine Marth, Publikationen
Anne-Laure Bondoux, Die Zeit der Wunder, aus dem Französischen von Maja von Vogel, Hamburg: Carlsen 2011, 192 Seiten, ab 12.