Heute vor 75 Jahren, am 2. Dezember 1938, erreichte der erste Kindertransport englischen Boden. Unter den letzten Kindern, die auf diese Weise gerettet wurden, befand sich Beatrice Steinberg (damals Beate Rose), eine Stifterin von uns. In ihren Memoiren, die wir im Archiv aufbewahren, erinnert sie sich an ihre Abreise aus Deutschland im Sommer 1939:
»[…] Meine Mutter brachte mich zum Zug, der sich später als einer der letzten Kindertransporte nach England herausstellte […]. Ich war so aufgeregt, dass ich die Treppen zum Bahnhof hochstürzte, ohne meiner Mutter auch nur ›Auf Wiedersehen‹ gesagt zu haben. Sie rief mich zurück, wir umarmten und küssten uns, ich bestieg den Zug, ging zum Fenster und wir winkten uns zu. Das war das letzte Mal, dass ich sie sah.«
Für die damals Zwölfjährige war die Reise ein Abenteuer, aber man kann sich vorstellen, wie groß die Verzweiflung gewesen sein muss, die ihre Eltern dazu bewog, die Tochter alleine fortfahren zu lassen. Die Kindertransporte begannen drei Wochen nach dem Novemberpogrom. Beates Vater war zu dieser Zeit im KZ Buchenwald inhaftiert. Ihre Eltern versuchten wie hunderttausende jüdische Männer und Frauen, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Doch welches Land würde seine Grenzen für die Flüchtlingsströme öffnen? Restriktive Einreisebedingungen und eine unüberschaubare Bürokratie machten die Emigration zu einem langwierigen und mühsamen Unterfangen.
Großbritannien und einige weitere europäische Länder wie die Niederlande, Frankreich, Belgien und Schweden erklärten sich schließlich bereit, eine begrenzte Zahl von Kindern aufzunehmen. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges verließen nun regelmäßig Transporte Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei. Ohne Hoffnung auf eine baldige Ausreise der ganzen Familie versuchten die Eltern, wenigstens ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.
Beatrice Steinberg hat uns die Dokumente von ihrem Kindertransport vor einigen Jahren gestiftet. Darunter befindet sich auch ihr Reisepass, der am 5. Dezember 1938 ausgestellt wurde, wohl in der Absicht, sie möglichst bald auf einen der Transporte zu schicken. Wie auf dem mit einem »J« gekennzeichneten Pass zu sehen ist, erreichte sie England am 21. Juli 1939. Ein Anhänger aus Papier nennt das Datum, an dem sie zu Hause abreiste, und dass ihr Transport vom Hilfsverein der Juden in Deutschland organisiert wurde. Auch ist die Nummer darauf vermerkt, mit der sie in den Listen der Organisatoren geführt wurde.
In unserem archivpädagogischen Programm beschäftigen wir uns häufig mit den Kindertransporten. Die Schüler und Studierenden erkunden das Thema dann selbst, indem sie Originalquellen wie die von Beatrice Steinberg erforschen und so von den Schicksalen erfahren, die sich dahinter verbergen. Fast immer laden wir auch Zeitzeugen ein, Stifter von uns, die mit den Teilnehmern über ihre Erlebnisse sprechen und das aus den Quellen Gelernte durch ihre persönlichen Geschichten bereichern.
Zu den eingeladenen Stiftern zählt auch Kurt Treitel, von dem das unscheinbar anmutende Papierschild mit seinem Namen darauf stammt. Wie alle Kinder auf den Transporten trug auch er dieses Schild mit seinem Namen (und dem Zwangszusatz »Israel«, der ihn als Juden kennzeichnete) um den Hals, als er in England ankam. Er gehörte mit 17 Jahren zu den ältesten Kindern der Transporte. Dass er einen Platz bekam, hatte er sicher dem Umstand zu verdanken, dass bereits ein Onkel von ihm in England lebte, der für seinen Aufenthalt bürgte.
In unserem Archiv sind nur einige dieser Geschichten dokumentiert. Insgesamt wurden 10.000 junge Menschen durch die Kindertransporte allein nach Großbritannien gerettet. Ein Großteil von ihnen sah die Eltern nicht mehr wieder. Die »Kinder«, wie sie sich selbst nennen, treffen sich seit den 1980er Jahren regelmäßig bei sogenannten »Reunions«, und der Zusammenhalt untereinander ist für sie oftmals ein Ersatz für die verlorene Familie. Auch in diesem Jahr fand wieder ein Treffen in England statt, an dem die mittlerweile hochbetagten »Kinder« zusammenkamen – 75 Jahre, nachdem die ersten Transporte Deutschland verließen.
Franziska Bogdanov, Archiv
Weder mein Alter, meine Geschichte oder Religion lässt mich immer wieder weinen beim lesen solcher Zeilen. Und doch passiert es. Besonders seit ich selber Mutter bin, berührt es mich so sehr.