Am 15. Februar 1940 erreicht die Münchner Familie Engel das rettende Ufer Manhattans – nach vierjährigem Warten auf das amerikanische Visum und der geglückten Flucht aus Nazideutschland. In ihrem Gepäck befinden sich einige Erinnerungsstücke, die der damals 13 Jahre alte Alfred Engel Jahrzehnte später dem Jüdischen Museum Berlin aus dem Nachlass seines Vaters schenken wird. Darunter sind seltene Fotografien aus den 1910er Jahren, in denen Harry Engel (1892-1950) aktiver Fußballer beim FC Bayern München war.
Meine Aufmerksamkeit für das Konvolut mit den Objekten von Harry Engel wurde durch ein unscheinbares Stück Papier geweckt, als ich in Vorbereitung auf die kommende Ausstellung »Der Erste Weltkrieg in der jüdischen Erinnerung« unsere Sammlungsbestände sichtete. Auf dem Papier wird in englischer Sprache handschriftlich festgehalten, dass Harry im Konzentrationslager Dachau inhaftiert war, sein Orden aus dem Ersten Weltkrieg ihm aber zur vorzeitigen Entlassung verholfen habe. Bei der Notiz handelt es sich also um eine persönliche Erläuterung zum König-Ludwig-Kreuz, einem bayerischen Verdienstorden, den Harry Engel mit in die Emigration nahm.
Inwieweit der Orden seinem Besitzer tatsächlich zur frühzeitigen Entlassung aus dem KZ verhalf, in das er am 10. November 1938 eingeliefert wurde, lässt sich zwar nicht verifizieren. Die kurze Notiz bezeugt jedoch, dass dies die Geschichte ist, welche die Familienangehörigen mit dem Orden verbinden. Sie ist ein außerordentliches Dokument und in ihrer Bedeutung dem Orden aus heutiger Sicht durchaus gleichrangig.
Wie in einem Brennglas verdichtet sich hier die Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs in der Überlieferung vieler deutsch-jüdischer Familien. Die Erinnerung an diesen Krieg ist an das gebunden, was sich zwischen 1933 und 1945 ereignete, Zugehörigkeit und Ausgrenzung im Familiengedächtnis untrennbar miteinander verknüpft. Für uns als Museum ist es ein Glücksfall, dass dieser Zusammenhang hier auf kleinstem Raum schriftlich niedergelegt wurde und somit als Teil der Objektgeschichte darstellbar ist. Normalerweise spiegelt er sich in den Erzählungen der Stifterinnen und Stifter des Museums, die wir zwar dokumentieren, jedoch nicht visualisieren können. (Tim Grady hat dazu ein sehr lesenswertes Buch »The German-Jewish Soldiers of the First World War in History and Memory« geschrieben und wird seine Forschungen zum Thema Familienerinnerung und Erster Weltkrieg am 3. September 2014 hier im Museum vorstellen.)
Doch nicht nur der Orden samt Notiz, sondern auch die Fußballfotos aus der Sammlung Engel sind Kleinodien. 100 Jahre nach ihrer Entstehung zeigt sich auch das Archiv des FC-Bayern München an ihnen sehr interessiert, an das ich mich mit einer Anfrage zu Harry Engel wandte. Dort ist Harry Engel zwar kein Unbekannter, seine Biografie jedoch lag weitgehend im Dunklen und im Zusammenhang mit der Erstellung von Spielerbiografien besteht großes Interesse an seinem Material. Laut Spielerstatistik bestritt er in den Jahren von 1913-1919 insgesamt 104 Spiele, ab Juli 1915 gehörte er durchgehend zu den Stammspielern der ersten Mannschaft. Zwei der Fotos aus unserem Konvolut wurden 1925 in der Festschrift zum 25-jährigen Jubiläum des FC-Bayern publiziert, die sich ebenfalls in Harry Engels Auswanderungsgepäck befand. Sein Name wird darin mehrfach genannt.
Im Dezember 1934 taucht der Name Engel noch einmal im Gästebuch des FC Bayern auf. Am 29. November 1951 erscheint schließlich in der Clubzeitung des Vereins ein kurzer Nachruf, der den Verstorbenen erinnert als »ein lieber Kerl und ein Sportsmann im alten Sinne«. Und so passte es dann für mich plötzlich sehr gut, dass derzeit alle über Fußball reden, während wir mit den Vorbereitungen auf die bald eröffnende Kabinettausstellung zum Ersten Weltkrieg in der jüdischen Erinnerung beschäftigt sind.
Leonore Maier, Sammlungen
PS: Für die Informationen zu Spielerstatistik, Gästebuch und Clubzeitung gilt mein herzlicher Dank dem Archiv der FC-Bayern Erlebniswelt.
PP.S.: Werfen Sie einen Blick in unsere »Kleine Geschichte des jüdischen Fußballs«.