Heute vor 25 Jahren, am 22. Januar 1990 wurde der Jüdische Kulturverein gegründet. Einen Monat zuvor, am 13. Dezember 1989 war in vielen Zeitungen der DDR ein über die Presseagentur ADN verbreiteter Aufruf erschienen. Er kündigte einen Zusammenschluss von in der DDR lebenden Juden an, der sich der Verbreitung von Wissen über jüdische Kultur und Geschichte widmen wollte. Der Aufruf kam nicht von ungefähr:
Schon 1986 hatten sich säkulare Juden auf Einladung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin (DDR) zusammen gefunden, um ihren jüdischen Wurzeln nach zu gehen, die für ihre Eltern keine identitätsstiftende Rolle mehr spielten. Aus der 2. Generation der politischen Remigranten, die in der DDR sozialisiert worden waren, formierte sich die Gruppierung »Wir für uns – Juden für Juden«. In regelmäßigen Zusammenkünften näherten sie sich einer lebendigen jüdischen Kultur an, zelebrierten Feiertage, diskutierten und stritten – auch politisch. Arbeitsgruppen entstanden, es wurde Theater gespielt und Vortragsreihen veranstaltet, so dass die Gruppierung sich langsam, von der Jüdischen Gemeinde gelegentlich argwöhnisch betrachtet, als eine feste Größe im Gemeindeleben etablierte, die auch für Nichtmitglieder zugänglich war. Die politischen Umwälzungen im Jahr 1989 machten es schließlich möglich, die Idee eines unabhängigen Jüdischen Kulturvereins in die Tat umzusetzen. Auf den Aufruf erfolgten hunderte von Zuschriften aus der ganzen DDR – darunter auch von bemerkenswert vielen Nichtjuden, die sich für eine Mitgliedschaft oder Mitarbeit interessierten. Da die später beschlossene Satzung eine Mitgliedschaft von der jüdischen Herkunft abhängig machte, wurden diese Interessenten als Freunde in den Verein integriert.
Während an der Gründungsversammlung am 22. Januar 1990 lediglich 66 Personen teilnahmen, fanden sich auf der ersten Vollversammlung am 31. März bereits um die 280 Personen ein, von denen über 200 bereits Mitglieder waren. Der Vorstand, zunächst noch Sprecherrat genannt, übernahm fortan die Leitung. 1991 erfolgte der Eintrag ins Vereinsregister (die DDR gab es zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr) und ein Jahr später wurde die Gemeinnützigkeit anerkannt. Gemäß seiner Satzung entwickelte der Verein in den folgenden Jahren vielfältige Aktivitäten, die der Vermittlung jüdischer Kultur und Geschichte dienten: er unterstützte Forschungsprojekte, widmete älteren Mitgliedern Fürsorge und Aufmerksamkeit, sorgte aber auch für die Vermittlung von Inhalten des religiösen Lebens. Letzteres führte im Verein immer wieder zu Kontroversen. Gerade Dr. Irene Runge, die von Beginn an Mitglied des Vorstandes war, stritt leidenschaftlich für diese Aufgabe, denn sie vertrat die Ansicht: »… Es geht nicht an, dass wir einen JKV vom Standpunkt der Nichtjuden her leiten, also über Judentum reden, anstatt es zu leben. Wenn wir als Juden einen Jüdischen Kulturverein wollen, kann sich dieser nicht gegen die Quellen des Judentums richten, sondern er muss auf eigene Weise der Tradition als Lebensweise verpflichtet sein.« Von 1991 bis 2006 gab der Verein ein zuletzt acht Seiten umfassendes Mitteilungsblatt heraus, die »Jüdische Korrespondenz«. Recht schnell wurden hier nicht nur organisatorische Fragen abgehandelt, sondern auch Grundelemente jüdischer Tradition vermittelt. Manche Leserinnen und Leser verwunderte die Vielzahl religiöser Themen, denn die Autoren waren der Ansicht, dass die »Beschäftigung mit dem Kultus … Stück historischer Selbstwahrnehmung« sei. Die Herausgeber verstanden das Blatt stets als ein Mittel zur Durchsetzung jüdischer Interessen und mischten sich auch mit streitbaren Artikeln in das aktuelle Zeitgeschehen ein.
Die größte Herausforderung des Vereins war bei seiner Gründung noch nicht absehbar: Sie betraf die Integration der russischsprachigen Einwanderer, die seit Anfang der 1990er Jahre ins Land kamen. Ein noch im Februar 1990 eingebrachter Antrag an den Runden Tisch zur Aufnahme sowjetischer Juden in der DDR machte den Anfang und bestimmte das Vereinsleben bis zur Auflösung in erheblichen Maß. Dieses umfasste praktische Lebenshilfe z.B. durch Besetzung genehmigter ABM-Stellen mit Einwanderern oder Vorträge und Gespräche in russischer Sprache, und bot diesen vor allem die viel gerühmte »Heimatinsel« an, die sie in der Jüdischen Gemeinde häufig nicht fanden.
Am 16. Dezember 2009 beschloss die Mitgliederversammlung die Auflösung des Jüdischen Kulturvereins. Als Gründe wurden der fehlende Nachwuchs bei gleichzeitig hohem Lebensalter der Mitglieder genannt, aber auch die sich durch die Vereinsgeschichte ziehende mangelnde Unterstützung von Seiten des Berliner Senats oder etablierter jüdischer Institutionen. 20 Jahre gestaltete der Verein die jüdische Stadt- und Zeitgeschichte Berlins auf ganz eigene Weise, vertrat im innerjüdischen Dialog politisch linke Standpunkte, engagierte sich gegen Rassismus und für das Miteinander verschiedener Religionen und Kulturen. Der ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Dr. Irene Runge ist es zu verdanken, das sich das Archiv des Jüdischen Kulturvereins heute im Jüdischen Museum Berlin befindet und damit auch der Forschung zugänglich ist.
Ulrike Neuwirth, Archiv
Dr. Irene Runge berichtet über die Schwierigkeiten mit der DDR-Bürokratie bei der Einfuhr koscherer Lebensmittel in der Anfangszeit des Jüdischen Kulturvereins.
Vielleicht wird ja auch mal die historische Falschaussage revidiert, dass erst die Bundesrepublik mit Kohl und Galinski s.A. die Einwanderung der russischen Juden befördert hätten. Das Gegenteil ist eher der Fall, beide waren in den Anfangsjahren eher an einem Stopp der Zuwanderung interessiert.
Was den Verein angeht: die politischen Umwälzungen im Jahr 1989 machten es nicht nur möglich sondern vor allem notwendig, dass sich die „wir für uns“-Gruppe als unabhängiger Verein gründete. Noch im Sommer 1990 sah es anders aus: von westberliner Seite wurde auf einer Versammlung mit Mitgliedern der Ostberliner Gemeinde betont, man werde die Gemeinde nahezu eigenständig weiter existieren lassen – was ja zunächst möglicherweise auch das Fortbestehen der „Wir für uns“-Gruppe ermöglicht hätte. Dieses Versprechen wurde aber ziemlich schnell nach dem 3.Oktober 1990 vergessen, wie immer ging es ums Geld, hier nämlich um die Ostberliner Immobilien.
Aber in allem Schlechten steckt auch was Gutes: hätte die westberliner Gemeinde mit Herrn Galinski nicht die ostberliner Gemeinde so radikal „abgewickelt“ und die damalige „Wir für uns“-Gruppe so unter Druck gesetzt, vielleicht hätte es nie einen JKV gegeben oder er wäre in den Wirren der Gemeindeinterna verschütt gegangen, auf jeden Fall hätte er nicht 20 Jahre unabhängig bestehen können.
Es ist einerseits schade, dass es den JKV nicht mehr gibt, andererseits hätte er sich wohl angesichts des inzwischen regen jüdischen Lebens in Berlin weitestgehendst erübrigt. 20 Jahre sind eine gute Zeit.