Raoul Wallenberg, seit Jahrzehnten als großer Held gefeiert, wäre dieses Jahr einhundert Jahre alt geworden. Der Sohn einer schwedischen Bankiersfamilie reiste Anfang Juli 1944 im Auftrag des War Refugee Board nach Budapest, um die dort ansässigen Juden vor der Vernichtung zu bewahren. Er nutzte seine diplomatische Immunität, um im Namen Schwedens Schutzpässe auszustellen sowie Schutzhäuser einzurichten und soll auf diese Art und Weise Zehntausende vor dem Tod bewahrt haben. Wallenberg verschwand nach Ende des Krieges und kam mutmaßlich in einem russischen Gefängnis ums Leben. Bereits 1949 wurde ihm ein erstes Denkmal in Budapest gewidmet.
Zum Jubiläum hat die Schwedische Botschaft in Deutschland mehrere Veranstaltungen organisiert, unter anderem die Ausstellung »Mir bleibt keine andere Wahl«, die Foto Blow-Ups und Texte zur Biografie, dem historischen Hintergrund und den Taten Wallenbergs sowie zu den von ihm geretteten Überlebenden auf bedruckten Stoffbahnen effektvoll präsentiert. Die in drei Kapitel untergliederte Wanderausstellung ist bis zum 11. November 2012 im Berliner Centrum Judaicum zu sehen.
Eine ganz andere, nämlich dezidiert ahistorische Perspektive nimmt die Oper »Wallenberg« des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür nach dem Libretto von Lutz Hübner ein, die das nächste Mal am 26. Oktober 2012 am Badischen Staatstheater in Karlsruhe aufgeführt wird. Die Inszenierung von Tobias Kratzer erzählt eher eine Gespenster-, als eine Heldengeschichte. Denn die Hauptfigur hadert von Anfang an mit dem eigenen Unvermögen, nicht noch mehr tun zu können, und scheint die eigenen Taten wie aus dem Jenseits zu rekapitulieren. Insbesondere im zweiten Akt, in dem die Nach(kriegs)geschichte zur Darstellung kommt, verliert Wallenberg zunehmend seine Handlungsmacht. Dafür betritt sein monströser Doppelgänger, ein sich selbst preisender Heldentenor die Bühne, der um die Bedeutsamkeit seiner Person weiß und die Aufmerksamkeit seiner Umgebung in vollen Zügen genießt. Wallenberg II ist nicht nur das narzistische Alter Ego, sondern vielmehr die mythische Gedächtnisfigur Wallenbergs.
Die Ausstattung Rainer Sellmeiers unterstreicht, dass die Oper ohnehin nicht Geschichte selbst darstellen kann und will, sondern im Sinne Roland Barthes vielmehr jene »Mythen des Alltags« wiedergibt, als welche historische Personen und Ereignisse auf der Bühne erscheinen. Beinahe alle Figuren sind maskiert. Die Diplomaten tragen Hasenohren, die SS-Offiziere Schweinsköpfe und Eichmann betritt die Bühne in der Maske eben jener Schlange, die in dem ersten Budapester Wallenberg-Denkmal eine Allegorie des Bösen darstellt. Gegen Ende des zweiten Akts wird dieses nunmehr vergoldete Denkmal in einem feierlich-grotesken Bankett zu Ehren Wallenbergs eingeweiht; dessen Geschichte scheint hier endgültig in einem mythischen Gedenkkult zu erstarren.
Die atonale Musik Tüürs mit ihren figurativen Percussion-Elementen verdichtet den inszenierten Kommentar auf die Geschichte von und das Gedenken an Wallenberg zu einem eindringlichen Opernabend.
Mirjam Wenzel, Medien