»Es fing erst an, als ich 1935 in einem Wiener Café über einer Zeitung saß und die eben drüben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze studierte. Ich brauchte sie nur zu überfliegen und konnte schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen. Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den durchaus die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte mich soeben in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht, beziehungsweise sie hatte meinem früher schon vorhandenen, aber damals nicht folgenschweren Wissen, daß ich Jude sei, eine neue Dimension gegeben.
Ich war, als ich die Nürnberger Gesetze gelesen hatte, nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor. Meine Gesichtszüge waren nicht mediterran-semitischer geworden, mein Assoziationsbereich war nicht plötzlich durch Zauberkraft aufgefüllt mit hebräischen Referenzen, der Weihnachtsbaum hatte sich nicht magisch verwandelt in den siebenarmigen Leuchter. Wenn das von der Gesellschaft über mich verhängte Urteil einen greifbaren Sinn hatte, konnte es nur bedeuten, ich sei fürderhin dem Tode ausgesetzt.«
Heute wäre der Autor dieser Zeilen, der Philosoph, Kritiker und politischer Kommentator Jean Améry, einhundert Jahre alt geworden.
Aus diesem Anlass findet am 17. November 2012 in der Berliner Akademie der Künste die Tagung »An den Grenzen des Geistes« statt, die vom Institut für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaft (IKK) der Freien Universität Berlin veranstaltet wird.
(Zitat: Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München: Szczesny 1966, S. 135.)