Nicht nur die jüdische Geschichte in Deutschland, sondern auch die Besucher des Jüdischen Museums überraschen durch außergewöhnliche Vielfalt. Bei meinen Führungen durch die Dauerausstellung im Libeskind-Bau wie auch die Wechselausstellungen im Altbau kommt es daher immer wieder zu ungewöhnlichen Begegnungen. In diesem Jahr zählt zu diesen der Besuch einer Gruppe iranischer Theologen aus der Stadt Ghom, die das Museum Anfang Oktober in Augenschein nahmen. An der theologischen Hochschule von Ghom werden die meisten iranischen Prediger ausgebildet. Ghom liegt unweit der Hauptstadt Teheran und gilt im Unterschied zum liberaleren Nadschaf als konservativ ausgerichtete Lehrstätte.
Wie viele Besucher kamen die iranischen Theologen als Teil einer größeren Reisegruppe ins Jüdische Museum. Das Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn hatte mit seinen Studierenden im Frühjahr den Iran bereist und organisierte nun den Gegenbesuch. Die schiitischen iranischen Theologen wurden also von christlichen und muslimischen Theologie-Studenten aus Paderborn begleitet, hatten mit diesen, wie es schien, jedoch wenig gemein.
Einige von ihnen waren in lange Gewänder gehüllt, trugen einen Turban als Kopfbedeckung und waren so schon von weitem als traditionelle Gelehrte erkennbar.
Die Besucher kamen für mich überraschend und unangekündigt: gebucht hatte die Führung die Universität Paderborn ohne Hinweis auf ihre ungewöhnliche Zusammensetzung. Ich wusste aber durch einen ehemaligen Kollegen von dem interreligiösen Studienprogramm dort und der Reise der deutschen Studiengruppe in den Iran. Dass beim Gegenbesuch in Deutschland auch eine Berlinfahrt mit Besuch des Jüdischen Museums stattfand, hat sicher nicht nur die Gäste aus dem Iran überrascht: auch für einen langjährigen Referenten bleibt eine solche Begegnung eine emotionale Herausforderung. Für kurze Zeit werden abgrundtiefe Gräben überbrückt – und konkret. Es fällt schwer, zu Menschen zu sprechen, deren politisch-religiöse Vertreter den Holocaust leugnen und gegen Israel hetzen. Andererseits waren sie gekommen, nicht ich hatte sie aufgesucht – sie waren Gäste. Ich beschloss, den Weg ins Freie zu suchen, zunächst der Gruppe im Garten die eindrucksvolle Architektur Libeskinds vorzustellen und mich für mein unvorbereitetes Englisch zu entschuldigen. Sie reagierten darauf mit einem Kompliment: mein Englisch sei besser als das ihre und so schien ein erstes Eis gebrochen.
Von Beginn an folgten die Gäste aus dem Iran den Ausführungen zu Haus und Ausstellung dann mit Interesse und wachsender Aufmerksamkeit und stellten diverse Fragen – etwa, ob es in Deutschland auch ein muslimisches Museum gebe?
Lebhaft diskutierend bewegten wir uns gemessenen Schrittes, aber mit einer eigenen Choreografie durch das Museum: Bei den Schilderungen von Exil und Vertreibung als wiederkehrende Erfahrungen der jüdischen Geschichte in Deutschland, bei der Vorstellung der Achsen des Exils und des Holocaust gingen einige der Teilnehmer sichtbar auf Distanz, beschäftigten sich plötzlich intensiv mit ihren Mobiltelefonen und waren erkennbar wenig an meiner Darstellung interessiert – allerdings ohne einen offenen Widerspruch zu formulieren. Während der Führung durch die Ausstellungsbereiche zur religiösen Tradition hingegen rückte die Gruppe eng zusammen und hörte konzentriert zu. Die Art der Präsentation religiöser Bräuche, der gelegentlich spielerische Umgang mit innerjüdischer Vielfalt und die phantasievollen Multimedia-Installationen wurden aufmerksam und nachdenklich betrachtet. Am Ende dieses Rundgangs haben sich diese seltenen Gäste mit Handschlag verabschiedet – und unter den vielen Besuchen des Jahres 2012 einen eigenen Akzent gesetzt.
An die Begegnung der iranischen Studenten und ihrer Professoren mit der kulturellen und religiösen Vielfalt in Deutschland erinnert auch eine Sendung des Deutschlandfunks, die am 16. Oktober 2012 ausgestrahlt wurde.
Marc Wrasse, Guide