Eine Bestandsaufnahme
Bisher haben literarische Texte über jüdische Themen auf unterschiedliche Weise zur Entwicklung der jüdischen Kultur beigetragen. Einige Texte bezweckten die Dokumentation und Wiederbelebung der mündlichen Überlieferung und des Volksmärchens, um sie vor dem Vergessen zu bewahren (z.B. Martin Bubers Die Erzählungen der Chassidim). Mit anderen wurden jüdische Themen der Mehrheitsbevölkerung zugänglich gemacht (wie Sidney Taylors All-of-a-Kind Family), während wieder andere dem Wiederaufbau einer jüdischen Gemeinschaft vor dem Hintergrund gemeinsamer Erfahrungen von Ritual, Emigration und Verfolgung dienten (so Friedrich Torbergs Die Tante Jolesch: oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten).
Nathan Englander, einer der anspruchsvollsten und provokantesten Autoren der Gegenwart, teilt keine dieser Absichten. Sein neustes Buch, Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden, ist eine Sammlung von acht Kurzgeschichten. Lose zusammengehalten werden sie durch den Titel der ersten Geschichte (der zugleich ein Zitat aus dieser ist), in der es um eine hitzige Debatte über den Genozid geht; der Titel bezieht sich auf Anne Frank nicht als historische Figur, sondern als Metonymie des Opfers. In den Geschichten wird über die Auswirkung jüdischer Themen wie Religion, Holocaust und Israel sowie die moderne jüdische Identität reflektiert. Dabei ist der Blick des Autors der eines Insiders – er wurde 1970 als Sohn jüdisch-orthodoxer Eltern in New York geboren – und zudem kritisch. Mit seinen fesselnden, sehr persönlichen und nahegehenden Geschichten, die an Theaterszenen erinnern und von intensiven Dialogen durchdrungen sind, hinterfragt er die Gültigkeit jüdischer kultureller Praxis:
Ein Wohnzimmer in Florida. Zwei ehemalige Jeschiwa-Schülerinnen treffen sich wieder, stellen einander ihre ungleichen Ehemänner vor und amüsieren sich über ihre unterschiedlichen Lebensentwürfe: Die eine ist zehnfache Mutter und lebt im ultra-orthodoxen Teil Jerusalems, die andere lebt mit ihrem Mann und einzigem Sohn außerhalb Miamis. Alle Beteiligten achten darauf, ultra-orthodoxe Praktiken genau einzuhalten aus Respekt vor Mark, der seine religiöse Hingabe zusammen mit seinem selbstgewählten Namen, Yerucham, ostentativ zur Schau stellt. Vorsichtig und mit viel gutem Willen gelingt es den Vieren, eine Unterhaltung in Gang zu halten, wobei potenzielle Kontroversen schnell geglättet oder abgebogen werden. Alkohol und Marihuana helfen, die Spannung zu mildern, doch unter ihrem Einfluss lässt Marks Ehefrau Shoshana durchblicken – oder eher: es gelingt ihr nicht mehr zu verbergen – wie es ihrer Meinung nach wirklich um die moralische Beschaffenheit ihres Mannes steht. Mit einem ehrlichen Blick stellt sie nicht nur ihre Beziehung in Frage, sondern, was schwerer wiegt, zugleich den Sinn, die Ethik und Effektivität sämtlicher jüdisch-religiöser Praktiken.
Ein Sommerlager für jüdische Senioren an der Ostküste der USA. Josh, ein junger, ehrgeiziger Betreuer organisiert Ausflüge, Lesezirkel und Kaffeestündchen, um seinen Schützlingen kulturell angemessene Geselligkeit und Unterhaltung bieten zu können. Dabei wird es gefährlich, weil zwei der Sommergäste in einem dritten einen Nazi-Kapo vom Konzentrationslager Treblinka zu erkennen meinen und nun zu Selbstjustiz greifen wollen.
Ein dünn besiedelter Hügel im Osten Jerusalems. Zwei Familien sind dabei, sich in den noch unerbittlichen, besetzten Gebieten anzusiedeln. Die Lebensbedingungen sind desolat, und den Familien steht ein zusätzlicher Härtetest bevor, als die Männer 1973 in den Jom-Kippur-Krieg ziehen. Unter diesen isolierten und extremen Bedingungen erkrankt ein Kleinkind schwer. Die verzweifelte Mutter greift auf ein altes jüdisches Ritual zurück: Sie verkauft ihre Tochter symbolisch, um ihr Leben zu retten. Das Mädchen überlebt. Etwa zwanzig Jahre später stehen sie und der Hügel in voller Blüte. Doch der Frau, die das Kind ›gekauft‹ hat, ist es schlecht ergangen. Ihr Mann und ihre drei Söhne haben ihr Leben für Israel lassen müssen. Sie will Vergeltung und beruft sich auf das jüdische Gesetz, demzufolge sie das ehemalige Kleinkind für sich beanspruchen kann, auch wenn sie damit das Leben der nun jungen Erwachsenen ruiniert.
Alle Geschichten gehen zunächst von der Prämisse aus, dass die jüdische Religion, die jüdischen Überlebenden und der jüdische Staat gewisse Anstrengungen erfordern und verdienen. Doch die Geschichten enden schließlich mit der Zurückweisung dieses Denkansatzes. Andere Gegenwartsautoren nennen Englander »kühn« (Dave Eggers), »unerschrocken« (Jonathan Safran Foer) und »wagemutig« (Jonathan Franzen), weil er sich weigert, bei der Darstellung des Judentums in der Kunst alten Muster und Traditionen zu folgen. Insbesondere für junge Juden in den USA und in Teilen Europas, die in florierenden Gemeinschaften und mit einer Fülle von jüdischen Filmen, Ausstellungen und jüdischer Kunst aufgewachsen sind, muss Englanders Stimme an das Kind in Des Kaisers neue Kleider erinnern, wenn es listig fragt: Worüber reden wir wirklich, wenn wir über Anne Frank reden?
Nathan Englander, What We Talk About When We Talk About Anne Frank, London: Weidenfeld & Nicolson 2012; Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden, übersetzt von Werner Löcher-Lawrence, München: Luchterhand Literaturverlag 2012.
Naomi Lubrich, Medien