Veröffentlicht von am 25. Juni 2013 1 Kommentar

Sprechende Quellen – ein kleiner online-Rundgang

Seit dem 30. Januar 2013 sind in unserem Online-Schaukasten Dokumente und Fotografien aus unseren Archivbeständen und denen des Leo Baeck Institutes zu sehen. Wir sind selbstverständlich nicht die einzigen, die online historische Quellen als Zeugnisse über die Zeit des Nationalsozialismus inszenieren. Ich habe mich umgesehen und möchte hier einige Angebote empfehlen:

Screenshot des Online-Projekts »onthisday80yearsago«Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Projekt von Torkel S. Wächter. 32 Postkarten veranlassten den schwedischen Schriftsteller, sich mit der Vergangenheit seiner deutsch-jüdischen Familie zu beschäftigen. Sein Vater Walter Wächter war 1938 nach Schweden geflohen und erhielt von seinen in Deutschland gebliebenen Eltern regelmäßig Karten. Torkel S. Wächter machte daraus das Internetprojekt www.32postkarten.com und veröffentlichte 2010/2011 jeweils 70 Jahre nach dem Tag, an dem die Karte geschrieben worden war, diese letzten Lebenszeugnisse seiner Großeltern, kommentiert und in den historischen Kontext gesetzt. Seine jahrelange intensive Beschäftigung mit der Geschichte seiner Familie präsentiert Wächter nun erneut als Online-Projekt: www.onthisday80yearsago.com. In literarischer Form, aber gestützt auf Briefe, Tagebuchnotizen und behördliche Dokumente, erzählt er die Geschichte seines Großvaters Gustav Wächter, eines Finanzbeamten, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft und durch Intrigen seine Arbeit verliert. Torkel S. Wächter veröffentlicht die Kapitel vom 30. Januar bis zum 2. Juli 2013 in »simulierter Echtzeit«, wie er es nennt, also als Re-Enactment der Ereignisse von 80 Jahren. Fortsetzungsroman, Weblog und Erinnerung gehen hier eine stimmige Verbindung ein.

Screenshot der Website »Die Quellen sprechen«Ein Radioprojekt des Bayerischen Rundfunks lässt ebenfalls »Die Quellen sprechen«. Es basiert auf dem Forschungsprojekt »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945«, einer auf 16 Bände konzipierten Quellensammlung privater wie offizieller Dokumente der Opfer und der Täter: Gesetze und Tagebucheinträge, Behördenschreiben und Leserbriefe, Augenzeugenberichte und Protokolle. Auf der konsequent ohne Bilder gestalteten Sonderwebsite der »dokumentarischen Höredition« ist nun nachzuhören, wie Schauspieler und Zeitzeugen ausgewählte Dokumente aus dem Editionsprojekt vortragen. Die erste Staffel umfasst über hundert Quellen der Jahre 1933 bis 1941. Es entsteht eine vielstimmige, multiperspektivische Collage, die trotz des absichtlich nüchternen Vortrags berührt und verstört. Dies liegt für mein Empfinden unter anderem an der Zeitgebundenheit der Texte. Sie sind nicht im Rückblick entstanden, im Wissen um die Dimensionen des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs, sondern dokumentieren chronologisch geordnet konkrete Ereignisse und die Perspektive der damaligen Zeitgenossen. Interviews mit den Herausgebern und den Radiomachern ergänzen das Angebot, die Quellen lassen sich außerdem mit Hilfe von Stichworten, Orten und Jahren erschließen. Insgesamt ist das Projekt ein sehr gelungenes Beispiel für mediengerechte Informationsaufarbeitung: Buch, Radio und Website nutzen das gleiche Material, bieten aber unterschiedliche Zugänge und Rezeptionserfahrungen.

Screenshot des Online-Projekts »memoryloops«Bereits im Jahr 2010 wurde die Website memoryloops – »300 Tonspuren zu Orten des NS-Terrors in München 1933-1945« gelauncht, die 2012 den Grimme online-Award erhielt. Das Kunstprojekt von Michaela Melián besteht aus vorgelesenen Quellentexten, die von Musik untermalt sind, was interessanterweise aber nicht ablenkt, sondern vielmehr die Intensität der Texte erhöht. Melián ordnet das Material nicht zeitlich, sondern topographisch, verbunden mit bestimmten Orten im Münchner Stadtraum. Die Website bietet einen virtuellen Stadtplan, von dem aus man die Tonspuren auswählt; die Audios lassen sich auch herunterladen, so dass man den »Erinnerungsschleifen« bei einem realen Gang durch die Stadt folgen kann.

Verorten ist auch das Stichwort für die wöchentliche Serie »50 Türen in die NS-Zeit« im Blog des Museums Neukölln. Vorgestellt werden die Biografien von Bewohnern einer Großsiedlung im Süden Berlins vor und nach 1933. Die Bevölkerungsstruktur der Siedlung verändert sich in dieser Zeit massiv, linke und gewerkschaftlich orientierte Bewohner müssen die Häuser verlassen, Nationalsozialisten ziehen ein.

Screenshot des Internetauftritts von »brandenburg33«Der Lokalgeschichte widmet sich ebenfalls das »Aktionsbündnis Brandenburg gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit«. Auf der Website www.brandenburg-33.de wird in chronologischer Abfolge an Ereignisse aus den Jahren 1932 bis 1934 erinnert, die den Prozess der Entdemokratisierung in der Region verdeutlichen. Hier setzt man zudem auf das Engagement der Besucher und ruft diese dazu auf, mit ihren eigenen Recherchen vor Ort die Inhalte der Seite zu bereichern. Dies geschieht auch dezidiert mit Blick auf die heutigen politischen Konflikte, denn das Aktionsbündnis beobachtet, dass sich Neonazis der Lokalhistorie bedienen, um für ihre Ideologie zu werben. Dem gilt es – ähnlich den westdeutschen Geschichtswerkstätten vor 30 Jahren – eine andere kritische Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen vor Ort entgegenzusetzen.

Henriette Kolb, Medien

Veröffentlicht unter Geschichte, Medien, Museumswelt
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Kommentiert von Fred am 28. Juni 2013, 22:33 Uhr

Danke für die spannenden Empfehlungen!

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