Denkanstöße von der Fachtagung zu »Migrations- und Integrationspolitik heute«
Der 18. Dezember wurde im Jahr 2000 von der UNO zum Internationalen Tag der Migranten erklärt. Heute, 13 Jahre später, können wir feststellen: Deutschland ist längst eine Migrationsgesellschaft. Die Bevölkerung ist plural, multireligiös und multiethnisch. Migration und Integration sind daher zukunftsweisende Handlungsfelder der Politik und Wissenschaft. Doch wo steht die Migrations- und Integrationspolitik heute? Und welche Rolle spielt die Wissenschaft dabei? Welche Konzepte sind überholt und welche neuen Perspektiven notwendig?
Am 22. November 2013 diskutierten ausgewiesene Expertinnen und Experten der Migrationsforschung diese Fragen intensiv und kontrovers in einer gemeinsamen Fachtagung der neuen Akademieprogramme »Migration und Diversität« des Jüdischen Museums Berlin und des Rats für Migration. In einer anschließenden öffentlichen Podiumsdiskussion traf Wissenschaft dann auf Politik: Politische Entscheidungsträgerinnen und -träger debattierten mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter anderem über die vorläufigen migrationspolitischen Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen.
Von der ›Integration‹ zur ›postmigrantischen Gesellschaft‹?
Auf der Fachtagung herrschte schnell Konsens darüber, dass der Integrationsbegriff problematisch ist, weil er in der Öffentlichkeit eindimensional als Bringschuld von Einwanderinnen und Einwanderern sowie deren Nachkommen verstanden wird. Während einige für neue Konzepte wie ›Inklusion‹ plädierten, waren andere dafür, den Begriff zurückzuerobern und neu auszurichten – als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Darüber hinaus wurde der Begriff der ›postmigrantischen Gesellschaft‹ in die Diskussion eingebracht. Er verdeutlicht, dass Menschen aus Einwandererfamilien, die bereits in dritter und vierter Generation in Deutschland leben, nicht mehr als ›die Anderen‹ betrachtet werden sollten. Er beschreibt also einen Paradigmenwechsel, mit dem ein Raum der Diversität jenseits von ethnischer, kultureller oder religiöser Herkunft in den Blick gerät. Viel zu lange hat auch die Forschung Minderheiten in den Fokus ihrer Arbeit gestellt, ohne die Integrationsbereitschaft der Mehrheit zu ergründen. Zwar ist Vielfalt als positiv besetzter Begriff in aller Munde, doch dass Rassismus und Diskriminierung in Deutschland zum Alltag gehören, dringt nur spärlich ins öffentliche Bewusstsein. Für viele Forscherinnen und Forschern kommt der Wissenschaft daher eine besondere Rolle zu: Sie sollte sowohl Politik und Gesellschaft, als auch die eigene Arbeit und Art der Wissensproduktion kritisch reflektieren.
Migrationspolitik im Zeichen der Koalitionsgespräche
Bei der abschließenden Podiumsdiskussion »Quo Vadis Migrationspolitik?« bezogen Aygül Özkan, Ministerin a.D. für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration in Niedersachsen und Mitglied des CDU-Bundesvorstands, und Miguel Vicente, Beauftragter der Landesregierung Rheinland-Pfalz für Migration und Integration und kommunaler SPD-Politiker, Stellung zu den Fragen der Fachtagung. Aleksandra Lewicki, Politikwissenschaftlerin an der University of Bristol, erweiterte die deutsche Perspektive durch ihre Ausführungen zur britischen Diversitätspolitik; und Dietrich Thränhardt, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Münster und langjähriger Migrationsforscher, warf einen historischen Blick auf das Thema. So stellte er gleich zu Beginn richtig, dass es wirtschaftlich motivierte Migration schon immer gegeben hat. Zudem berge die aktuelle stigmatisierende Debatte um »Armutszuwanderung« von Roma eine gefährliche Geschichtsvergessenheit in sich, die die Vernichtung von Sinti und Roma in der NS-Zeit verdränge. Miguel Vicente machte deutlich, wie verzerrt das Bild sei, da junge Spanierinnen und Spanier, die ebenfalls in prekären Verhältnissen leben und somit Kommunen belasten können, anders bewertet werden als Roma. Özkan betonte demgegenüber, dass die betroffenen Kommunen tatsächlich überfordert seien und unterstützt werden sollten.
Vor dem Hintergrund der Lampedusa-Tragödie hat auch die Asyl- und Flüchtlingspolitik ihren Niederschlag im Koalitionsvertrag gefunden – wie in der Diskussion deutlich wurde, greifen die dort beschlossenen Maßnahmen zur Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt jedoch zu kurz. Die Frage, wie eine sinnvolle Antidiskriminierungs- und Gleichstellungspolitik aussehen kann, stand im Mittelpunkt der Diskussion mit dem Publikum. Lewicki merkte an, dass der Antidiskriminierungsarbeit in Großbritannien eine größere Wichtigkeit beigemessen werde – das ist allein schon an der besseren finanziellen Ausstattung im Vergleich zur Antidiskriminierungsstelle des Bundes festzumachen.
Abschließend appellierte Vicente an die Wissenschaft, die Politik weiterhin kritisch zu beraten: diese sei darauf angewiesen.
Neue Impulse aus der Akademie des Jüdischen Museums Berlin
Die Programme zu »Migration und Diversität« erweitern das Tätigkeitsfeld des Jüdischen Museums Berlin in thematischer wie programmatischer Hinsicht. Die Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, an denen sie angesiedelt sind, hat bei dieser Veranstaltung zu einem gehaltvollen und anregenden Austausch geführt. Die aufgeworfenen Ansätze zu einem Paradigmenwechsel im Bereich Migration und Integration werden unter anderem im November 2014 mit einer internationalen Konferenz zum Konzept der ›postmigrantischen Gesellschaft‹ fortgeführt und vertieft.
Betul Yilmaz und Rafiqa Younes, Akademieprogramme »Migration und Diversität«
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