Wenn man unseren Bibliothekskatalog nach Goethe befragt, könnte man auf diese Idee kommen: 70 Treffer von und über den deutschen Dichter (bei Schiller sind es 16). Und in unserer Dauerausstellung stand vor einigen Jahren noch die stattliche Goethe-Ausgabe der Cotta’schen Buchhandlung aus dem Jahr 1867. Viele Besucher fragten damals unseren Besucherservice: »War denn Goethe auch ein Jude?« Nein, war er nicht, aber er galt vielen deutschen Juden als Inbegriff der deutschen Kultur und seine Werke symbolisierten die Zugehörigkeit zum deutschen Bildungsbürgertum.
Vor einigen Monaten hat uns die Richard M. Meyer Stiftung über hundert Bücher von und über den Bankierssohn, Kunstsammler, Literaturwissenschaftler und eben Goethe-Forscher Richard M. Meyer geschenkt. Meyer hat nie eine ordentliche Professur bekommen, seine 1895 erschienene Goethe-Biographie wurde prämiert und in zahlreichen mehr- und einbändigen, Vorzugs- und Volksausgaben aufgelegt. Darin heißt es, Goethe habe »die Nationalitäten nur als Übergangsformen« angesehen (Volksausgabe 1913, S. 352). Solche Äußerungen veranschaulichen das Dilemma deutsch-jüdischer Assimilation dieser Zeit. Rückte ein jüdischer Interpret Goethes Kosmopolitismus in den Vordergrund, setzte er sich dem Vorwurf aus, das deutsche Wesen zu verkennen; erkannte er eben dieses in der Sprache, machte man ihm das Mitspracherecht streitig. Doch nicht nur die Idee einer Weltliteratur, auch biblische Bezüge waren bei dem deutschen »Geisteshelden« zu finden. So erkannte Meyer in dem Faustischen Pakt mit dem Teufel das »Grundmotiv der Wette« aus dem Buch Hiob wieder (ebd., S. 343, in der Erstausgabe nicht enthalten, vgl. dort S. 356). Doch Goethe war kein »Eintrittsbillet« (Heine) in die deutsche Kultur: Richard M. Meyer ließ sich nicht taufen. Er starb 1914 an einem Gehirnschlag; seine Frau Estella, der die Goethe-Biographie gewidmet war, wurde im Juli 1942 ermordet.
Uns bleibt noch mitzuteilen, dass der Lesesaal nach dem Umzug in die Akademie nun auch mit schnellen Computern, hellen Tischleuchten und einem Kopiergerät ausgestattet ist. Der genaueren Erforschung der jüdischen Goethe-Rezeption steht damit nichts mehr im Wege. Treten Sie ein!
Bernhard Jensen, Bibliothek