oder: die Suche nach dem Transport aus dem Paradies
Sommer 2013: Wir planen eine Themenwoche zu Theresienstadt als Begleitprogramm für die Aufführung des »Defiant Requiem« im März 2014. Der neue, vieldiskutierte Film von Claude Lanzmann beschäftigt sich mit Benjamin Murmelstein, dem letzten »Judenältesten« des Ghettos Theresienstadt. Was lag also näher, als »Den Letzten der Ungerechten«, so bezeichnete Murmelstein sich selbst, im Begleitprogramm zu zeigen?
September 2013: Es gibt noch keinen deutschen Verleih für den Film. Kein Problem, in sechs Monaten sollte das Problem gelöst sein. Im November findet die deutsche Premiere im Kino Arsenal statt.
November 2013: Premiere im Kino Arsenal, mehrere hundert Besucher drängen sich in den Film. Es gibt jedoch noch immer keinen deutschen Verleih. Der Pariser Verleih ist zuversichtlich, das wird sich bald klären.
Januar 2014: Es gibt immer noch keinen deutschen Verleih, man hofft auf die Berlinale. Wir müssen vorsichtshalber einen Ersatz für unser Programm finden. Der Leiter des Jüdischen Museums in Hohenems, Hanno Loewy, schlägt vor, folgenden Film zu zeigen: Zbyněk Brynychs »Transport aus dem Paradies« von 1963 – ein satirischer Film der frühen tschechischen Nouvelle Vague, eine der ersten Filmarbeiten überhaupt, die, als Reaktion auf die Holocaust-Prozesse der 1960er Jahre, ohne moralische Eindeutigkeit das Zwielicht der Beziehung zwischen Opfer und Täter unter der Willkür absoluter Herrschaft und Vernichtung ausloten. Hier spielt ein »Judenältester« namens »Murmelstaub« eine groteske Rolle. Eine DEFA Koproduktion und ein würdiger Ersatz für den Lanzmann-Film.
Aufführungstermin minus 8 Wochen: Kein Problem, die Stiftung Deutsche Kinemathek verwaltet den DEFA-Nachlass. Nein, Moment, die deutschsprachige Kopie des Films liegt im Bundesarchiv. Ja, es gibt eine 35mm-Kopie, aber nein, die Rechte werden von einer tschechischen Filmagentur verwaltet.
Aufführungstermin minus 7½ Wochen: Mittlerweile werden die Rechte vom Nationalen Filmarchiv Prag verwaltet. Das NFA ist begeistert: »Transport aus dem Paradies«, ein großartiger Film, er wird selten gezeigt! Sie stellen für uns eine HD-Kopie vom Original her. Mit deutschen oder englischen Untertiteln? Das wird sich noch herausstellen.
Aufführungstermin minus 4 Wochen: Das NFA hat keine Fassung mit deutschen Untertiteln. Kein Problem, dann nehmen wir englische Untertitel. Das NFA hat auch keine Fassung mit englischen Untertiteln. Sie suchen weiter. Kein Problem, es gibt ja noch die deutsche Kopie im Bundesarchiv.
Berlinale, Aufführungstermin minus 3½ Wochen: Es gibt noch keinen deutschen Verleih für Claude Lanzmann, wir müssen die Hoffnung, beide Filme im Märzprogramm zeigen zu können, begraben.
Aufführungstermin minus 3 Wochen: Das NFA hat tatsächlich keine Fassung mit Untertiteln für »Transport aus dem Paradies«, weder auf Deutsch noch auf Englisch. Kann das Bundesarchiv in drei Wochen eine HD-Kopie ihrer deutsch-synchronisierten Fassung herstellen? Nein, es kann keine Kopie machen. Und nein, es darf den 35mm-Film auch nicht aus dem Haus geben. Der Film ist nicht restauriert und zerfällt, wenn er angerührt wird.
Aufführungstermin minus 15 Tage: Das NFA hat eine deutsche und eine englische Dialogliste. Und die Hälfte der Dialoge sind sowieso auf Deutsch.
Aufführungstermin minus 14 Tage: Hanno Loewy hat noch eine Kopie auf VHS aus den 80er Jahren mit englischen Untertiteln. Die Veranstaltungsabteilung des Museums ist empört: »Wir hängen Euch einen Rolls Royce an die Decke, einen Bluray Projektor, damit wir die allerhöchste Abspielqualität gewährleisten, und Ihr wollt eine VHS einschieben?!«
Aufführungstermin minus 13 Tage: Der Film wurde 2006 im Zeughaus-Kino Berlin gezeigt – mit Untertiteln! Nur leider ist auch die Kopie, die dort gezeigt wurde, verschollen. Heureka! Eine Produktionsfirma in Großbritannien gibt eine DVD des Films mit englischen Untertiteln heraus! Und die DVD erscheint – am 10. März 2014. Unsere Veranstaltung findet am 1. März 2014 statt.
Aufführungstermin minus 12 Tage: Michael Chadim, der tschechisch-deutsche Schauspieler und Synchronsprecher, wird die tschechischen Dialoge deutsch einlesen. Ungewöhnlich, aber warum nicht, wir kriegen das hin!
Aufführungstermin minus 7 Tage: Das NFA schickt die Dialogliste – einen Scan eines maschinengeschriebenen Manuskripts von 1963 – und eine Arbeitskopie des Films aus dem tschechischen Fernsehen. In der Tat, es sind nur ein paar Seiten tschechischer Dialog. Vorausgesetzt, das Manuskript ist komplett.
Aufführungstermin minus 4 Tage: Michael Chadim hat den Film geprüft, die Dialoge sind komplett – es gibt sogar sechs Zeilen am Ende des Manuskripts, die nicht im Film sind. Interessant.
Aufführungstermin minus 3 Tage, 23.03 Uhr: Die HD-Kopie des NFA trifft ein.
Aufführungstermin minus 2 Tage: Ich treffe den Musiker Daniel Kahn und erzähle ihm von unserem Theresienstadt-Programm. Er fällt mir ins Wort: »Theresienstadt? Sag mal, kennst Du diesen alten tschechischen Film, irgendwas mit Transport vom Paradies? Ein toller Film. Den solltet ihr irgendwie besorgen.«
Wir danken für ihre Mühen in dieser Odyssee:
– Arnaud Aubelle von Le Pacte, Paris – vielleicht klappt es ja noch mit dem »Letzten der Ungerechten«, wenn ein deutscher Verleih gefunden wurde!
– den Kollegen der Stiftung Deutsche Kinemathek und des Bundesarchivs,
– Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, der die Einführung zu »Transport aus dem Paradies« geben wird, und am Sonntag beim Theresienstadt-Symposion über die NS-Propagandafilme aus Theresienstadt, Warschau und Lodz sprechen wird,
– Chris Barwick von Second Run DVD in Großbritannien – wer den Film zuhause sehen möchte, kann ihn ab dem 10. März bestellen – und vor allem: Daniel Vadocký vom Nationalen Filmarchiv Prag für seinen unermüdlichen Einsatz für »Transport aus dem Paradies«!
Signe Rossbach, Veranstaltungskuratorin
Signe Rossbach betreut die Themenwoche Theresienstadt im Begleitprogramm des »Defiant Requiem«, 27. Februar bis 4. März 2014.