Warum Stuart Halls Tod einen Verlust für unsere Akademieprogramme darstellt
Vor genau einem Monat, am 10. Februar 2014, ist Stuart Hall gestorben. Es ist eine der Todesmeldungen, die tatsächlich das Gefühl eines persönlichen Verlusts aufkommen lassen. Die antirassistischen Schriften dieses bekannten britischen Soziologen und Mitbegründers der Cultural Studies wurden Mitte der 1990er Jahre erstmalig ins Deutsche übersetzt – zu einer Zeit, als man hier gerade damit begann, sich überhaupt mit Rassismus zu befassen.
Sein Zugang eröffnete damals eine neue Welt und stellte ein neues Vokabular zur Verfügung: Bis dahin war in der Bundesrepublik von »Ausländer-« oder »Fremdenfeindlichkeit« die Rede, die zudem als gesellschaftliches Randphänomen abgetan wurde. Medien wie Politikerinnen und Politiker sprachen selbstverständlich von einer »Belastungsgrenze«, die »überschritten« sei angesichts der »Überfremdung« – ein rassistisch fundierter Begriff, der zum Unwort des Jahres 1993 avancierte. Damit wurden die zeitweise alltäglichen Brandanschläge auf Asylbewerberunterkünfte und Wohnungen von Eingewanderten erklärt – ebenso die Hetzjagden, die pogromartigen Ausschreitungen in Rostock, Hoyerswerda und anderswo sowie das Bestehen von No-go-Areas in Städten und Landgemeinden. Konsequenterweise wurde 1993 das Asylrecht so geändert, dass es nach juristischer Einschätzung als »faktisch abgeschafft« gilt. Wer sich damals auf wissenschaftlicher und theoretisch fundierter Grundlage mit Rassismus als Strukturphänomen befassen wollte, musste zu Autorinnen und Autoren aus England, Frankreich, den USA oder Kanada greifen – und immer wieder zu Stuart Hall.
Laut Hall dient der Rassismus unter anderem dazu, »soziale, politische und ökonomische Praxen zu begründen, die bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen oder symbolischen Ressourcen ausschließen« (vgl. Hall: »Rassismus als ideologischer Diskurs«). Rassismus ist also weitaus mehr als ein individuelles Vorurteil oder Ressentiment, vielmehr tritt er in den gesellschaftlichen Institutionen und Strukturen selbst zutage. Auch die Analyse eines »Rassismus ohne Rassen« – eines sich modernisierenden Rassismus, der statt von ›Rasse‹ meist von ›Kultur‹ spricht – ist von Forschern wie Hall maßgeblich beeinflusst worden. Ähnlich formulierte auch Theodor W. Adorno: »Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch« (vgl. Adorno: »Schuld und Abwehr«). Prägnant wusste Hall die Funktion von Rassismus für die Identitätsbildung auf den Punkt zu bringen: »Die Engländer sind nicht deshalb rassistisch, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind«, so seine These (Hall: »Ethnizität: Identität und Differenz«).
Übersetzt werden musste Hall dabei in mehrfacher Hinsicht, denn die Konzepte, die er verwendete und weiterentwickelte, erschienen im deutschen Wiedervereinigungskosmos fremd: Die Cultural Studies handelten von politischem Widerstand, Race hatte weniger mit Biologie und Natur zu tun als mit Class, Identität war nichts Festes, und Hybridität sollte man als etwas verstehen, was nicht einfach Dreiviertel A und ein Viertel B ist. Ethnicity war das kollektive Bewusstsein um das Gewordensein der eigenen gesellschaftlichen Positionierung und das Gegenteil von Blut, Boden, Schicksal und Volksgeist. Schwarz und Weiß wurden mit Autorinnen und Autoren wie Hall als politische Kategorien verstehbar.
Auch heute haben solche theoretischen Überlegungen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Sie helfen, gesellschaftliche Ungleichheit zu analysieren und zu benennen – aber auch, das Verständnis von Deutschsein und Zugehörigkeit offen zu halten. Wir werden Stuart Hall in diesen Debatten deshalb schmerzlich vermissen!
Rosa Fava, Vielfalt in Schulen, und Yasemin Shooman, Akademieprogramme Migration und Diversität
PS: 2013 erschien ein Filmporträt über Stuart Hall von John Akomfrah.