Meine Woche intensiver Recherchen im Nachlass von Fred Stein
Im Juni 2012 hatte ich die Möglichkeit, mich in den Nachlass von Fred Stein zu vertiefen. In Vorbereitung auf unsere derzeitige Ausstellung »Im Augenblick« reiste ich in den kleinen Ort Stanfordville im State New York und besuchte dort Peter Stein, Sohn des Fotografen und Nachlassverwalter. Eine Woche lang untersuchte ich das umfangreiche und vielschichtige Material, das dort in verschiedenen Räumen des Privathauses lagert. Es war ein unvergessliches Eintauchen in das Werk und Leben Fred Steins.
Hunderte Negative, untergebracht in feuerfesten Schränken, bilden das Herzstück der Sammlung. Ihre unterschiedlichen Formate verweisen auf zwei Kameras, mit denen Stein fotografierte: aufgerollte 35-mm-Negativstreifen der Leica und einzeln in Pergaminhüllen verpackte Negative im Format 6 x 6 cm der Rolleiflex. Die Kameras selbst sind leider nicht erhalten geblieben. Unter den Negativen befinden sich auch Steins allererste Aufnahmen aus Dresden kurz vor seiner Emigration 1933 nach Paris.
Mit Kontaktbögen gefüllte Ordner geben einen guten Überblick über das Oeuvre von Fred Stein. Diese unterscheiden seine Aufnahmen aus Paris in den 1930er Jahren, aus New York in den 1940er Jahren und seine Porträts, die er zeit seines Lebens fotografierte. Die Beschriftungen in den Ordnern stammen meist von seiner Frau Lilo und sind in Deutsch, Französisch und Englisch, den Sprachen der drei Lebensstationen der Steins, verfasst.
Darüber hinaus sind zahlreiche Originalabzüge erhalten geblieben, die auf mattem und glänzendem Fotopapier überwiegend in der Größe 20 x 25 cm angefertigt wurden. Bedauerlicherweise signierte Fred Stein seine Abzüge nie, lediglich auf einigen wenigen Originalpassepartouts ist seine Signatur erhalten. Auch Titel hat der Fotograf nicht vergeben, durch die Beschriftungen der Negative und teilweise der Rückseiten der Abzüge sind jedoch meist Aufnahmedatum und kurze Arbeitstitel bekannt.
Über die fotografischen Zeugnisse hinaus existiert eine ausführliche Korrespondenz, bestehend aus geschäftlichen und persönlichen Briefen. Darunter gibt es einige Schriftstücke, die die Alltagsprobleme des Fotografen verraten: Etliche Zahlungserinnerungen über kleinste Beträge dokumentieren Steins angespannte finanzielle Situation. Unzählige Aufforderungen zur Beachtung der Urheberrechte lassen erahnen, wie oft seine Fotografien ohne Angabe seines Namens publiziert wurden.
Ein Brief, den Fred Stein 1946 an Freunde und Verwandte schrieb, berichtet ausführlich, was ihm und seiner Frau in der Emigration widerfuhr und schildert ihre Schwierigkeiten während des Krieges, so zum Beispiel Fred Steins Internierung als »feindlicher Ausländer« in verschiedenen Lagern in Frankreich ab 1939, seine geglückte Flucht zu Fuß nach Südfrankreich und das dortige Wiedersehen mit seiner Frau und Tochter 1941. Persönliche Dokumente wie dieser Brief und Familienfotografien gewähren einen bewegenden Blick in das Privatleben Fred Steins, der erst im Exil zum Fotografen wurde.
Für mich war die Durchsicht des gesamten Nachlasses eine intensive und lange nachwirkende Erfahrung. Dafür möchte ich Peter Stein und dessen Frau Dawn Freer herzlich danken. Während meiner Woche in New York fügten sich Puzzleteile der davor begonnenen Recherche zusammen und schon bekannte Motive wurden durch ›Neuentdeckungen‹ ergänzt. Erste Ausstellungsideen verfestigten sich, so auch das dann umgesetzte Konzept, das Biografie und Werk eng miteinander verzahnt und das Sie nun noch bis zum 4. Mai in der Eric F. Ross Galerie des Jüdischen Museums Berlin erleben können.
Theresia Ziehe, Fotografische Sammlung und Kuratorin der Ausstellung »Im Augenblick«