Über die Zeit des Nationalsozialismus gibt es unzählige Publikationen, und immer wieder kommen neue Romane, Sach- und Jugendbücher auf den Markt, die sich mit dem Thema befassen. Dazu gehört auch Jürgen Seidels »Blumen für den Führer«, das erste Buch einer Romantrilogie, rezensiert als »sehr komplexer, bewegender und spannender Jugendroman über eine tragische Liebe im Nationalsozialismus«, der auch für »Erwachsene lesenswert« sei. In einer Gruppe, die sich mit Kinder- und Jugendliteratur zum Nationalsozialismus befasst, lasen wir diese Trilogie. Und stellten bald fest, dass wir nicht, wie geplant, über die Darstellung des Nazi-Regimes und der deutschen Geschichte würden diskutieren müssen, sondern über ein anderes Thema: Rassismus.
»Rassismus umfasst Ideologien und Praxisformen auf der Basis der Konstruktion von Menschengruppen als Abstammungs- und Herkunftsgemeinschaften, denen kollektive Merkmale zugeschrieben werden, die implizit oder explizit bewertet und als nicht oder nur schwer veränderbar interpretiert werden.« (Johannes Zerger, Was ist Rassismus?, Göttingen 1997, S.81).
Wenn man sich, wie viele Mitarbeiter_innen des Jüdischen Museums täglich damit befasst, wie Diversität ermöglicht werden kann, wie sich Stereotype vermeiden lassen und gehässige Klischees, dann ist man mindestens verblüfft, wenn bereits auf den ersten Seiten eines Jugendbuchs ganz frei und ohne Erläuterung von »kohlrabenschwarzen«, »stinkenden« »Negerbuben« die Rede ist.
Nun, denkt man sich, es wird die Rede von jungen Mädchen 1936 wiedergegeben, wenn der Autor deren Ton treffen möchte, dann muss er wohl auf die zutiefst rassistische Sprache der Zeit zurückgreifen. Doch auch auf späteren Seiten und im Folgeroman legt der Autor auch ohne den »Zwang« der wörtlichen Rede seinem Erzähler Begriffe in den Mund, die direkt aus dem kolonialistischen Sprachgebrauch stammen: Nicht nur wird seitenweise und ohne erzählerische Not das N*-Wort genutzt, sondern es werden auch in der Darstellung von Afrikanern, bzw. Afro-Amerikanern Stereotype bemüht, von denen man meint, dass sie Büchern des vorletzten Jahrhunderts entnommen sind.
Nun, kann man sagen, ein allwissender Erzähler, der den Blickwinkel seiner Protagonisten einnimmt, muss sich auch deren Sprache bedienen. Was aber geschieht, wenn er dies tut? Wann beginnt die Anlehnung an einen rassistischen Sprachgebrauch selbst rassistisch zu werden?
Spätestens dann, wenn die sprachlich entworfenen Stereotype durch keinerlei Entwicklung der Helden oder Reflexionen seitens des Erzählers gebrochen werden, sondern ebenso unkritisch übernommen wie unkommentiert stehen bleiben. Im Fall der erwähnten Romane geschieht genau das: Einzelne Begriffe und Figuren der Nazizeit werden in einem Glossar ausführlich erklärt; rassistische Wendungen finden hingegen keinerlei Kommentar, der Anhang suggeriert also, dass sie selbst- und allgemeinverständlich sind.
Was passiert also, wenn eine Erzählung keinerlei Reflexion über ihre explizit wertenden Konstruktionen erkennen lässt? Eine kritische Leserin wird zusammenzucken, sich wundern, gekränkt, verblüfft oder entsetzt sein. Ein unkritischer Leser vielleicht über die Passagen hinweglesen. Eine Leserin, die eher im rechtsnationalen Spektrum unserer Gesellschaft zu finden ist, fühlt sich – übrigens auch in der beschriebenen Opferrolle der vermeintlich unschuldigen Deutschen – in ihren Vorurteilen bestätigt. Schlimm genug, all das. Doch was ist mit jugendlichen Lesern, die mit derartiger Sprachgewalt noch nie in Berührung kamen? Die ungebrochene Tradierung rassistischer oder auch antisemitischer Klischees bewirkt vor allem eines: Ihr Weiterleben, ihre Verbreitung, und, wie im Falle dieser Trilogie, leider auch ihre scheinbare Berechtigung.
Marie Naumann, Publikationen
Jürgen Seidel: Blumen für den Führer (2010), Die Unschuldigen (2012), Das Paradies der Täter (2012), cbj Verlag, München