Es ist kalt. Das Neonlicht leuchtet grell. Vor weißen Wänden reiht sich ein grauer Schrank neben den anderen. Der Raum wirkt steril. Die Klimaanlage brummt. Depot-Tristesse.
Ich ziehe blaue Gummi-Handschuhe an, öffne einen der Schränke und hebe einen grauen Karton heraus. Unter mehreren Lagen von Seidenpapier schimmern die Konturen eines Objekts hervor. Ich nehme es vorsichtig aus dem Karton und befreie es von dem Papier: ein historischer Mikrokosmos eröffnet sich.
Es wirkt so, als würde die Depot-Tristesse die Aura der Objekte betonen und umgekehrt tritt der Raum ganz zurück. Die französische Historikerin Arlette Farge hat diese sinnliche Erfahrung in »Le goût de l’archive« (Der Geschmack des Archivs) anschaulich beschrieben; ich bin immer wieder beeindruckt davon, wie sehr sie auch meine Arbeit im Depot prägt.
Als wissenschaftliche Volontärin in der Sammlungsabteilung ist eine meiner Hauptaufgaben die Aufbereitung von Zeremonialobjekten und Objekten der angewandten Kunst für die Online-Suche. Objektrecherche und -Beschreibung, Klärung der Copyrights und Verschlagwortung sind zentrale Aspekte meiner tagtäglichen Arbeit. Allen Anfang bildet dabei die Sichtung im Depot, gewissermaßen das erste Kennenlernen des Objekts. Auf die Sichtung folgt die Recherche, die sowohl auf bereits vorhandene Ergebnisse zurückgreift als auch neue ans Licht befördert. Bei jedem Objekt verläuft dies unterschiedlich. Mal lässt sich ein neues Detail über den Herstellungskontext des Objekts in Erfahrung bringen, mal über dessen besondere Nutzung.
Bringt man die Objekte durch die entsprechende Recherche zum Sprechen, so wissen sie von unzähligen Themen, Kontexten und Erfahrungen zu berichten. Meist wechselten sie mehrfach den Besitzer und Aufenthaltsort. Oft waren sie freudigen Ereignissen gewidmet, beispielsweise als ein Geschenk zur Bar Mizwa. Einige Objekte sollten an das Leben bedeutender jüdischer Persönlichkeiten erinnern. Manche waren Zeugen von Flucht und Zerstörung; andere wurden auf Grund ihrer avantgardistischen Form von den Nationalsozialisten selbst als »entartet« diffamiert. Die Objekte erzählen vom Leben im Exil, dem Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 und von der Suche nach einem zeitgenössisch-modernen Design.
Häufig bleiben auch nach gründlicher Recherche viele Fragen offen. Mitunter kommen sogar noch weit mehr Fragen gerade durch die Recherche auf. Dies war etwa bei einem kleinen, silbernen Becher der Fall: Der schlichte Becher wurde im späten 19. Jahrhundert gefertigt und ist auf der Vorderseite mit einem bekränzten Medaillon versehen, in dem der hebräische Name »Riwka« (Rebekka) eingraviert ist. Wer war diese Person? Wofür nutzte sie den Becher? War er ein Geschenk zur Geburt oder Hochzeit? Wurde der Name sofort nach der Herstellung des Bechers oder erst Jahre später eingefügt? Dies alles lässt sich vermutlich nie mehr rekonstruieren. Und so bleibt viel Raum für Spekulation. Könnte dieser Becher Ausdruck einer bestimmten geschlechterhistorischen Entwicklung im ausgehenden 19. Jahrhundert gewesen sein? Denn durch die Verbürgerlichung und die damit einhergehende Ausdifferenzierung geschlechtsspezifischer Sphären und Rollen rückten Jüdinnen im Verlauf des 19. Jahrhunderts vom Rande des religiösen Geschehens in dessen Mittelpunkt. Insbesondere die amerikanische Historikerin Marion Kaplan hat diesen Prozess in den 1990er Jahren erforscht und den Begriff der »Hüterinnen der Tradition« geprägt. Verstärkt waren es Frauen, die religiöse Riten in der Familie pflegten und an die nächste Generation weitergaben. Betraf dies auch die hier genannte Riwka? Die hebräische Inschrift auf dem Becher zeigt an, dass dieses Objekt möglicherweise zu rituellen Zwecken als Kiddusch-Becher genutzt wurde. Über einem Kiddusch-Becher wird am Schabbat oder bei einem anderen jüdischen Fest der Kiddusch, ein Segensspruch, gesprochen.
Was aber, wenn Objekte keinerlei direkte Hinweise auf ihre rituelle Nutzung aufweisen? Dies ist etwa bei dem so genannten Ananas-Pokal (auch Trauben- oder Buckel-Pokal genannt) in der Judaica-Sammlung der Fall. Die Gattung des Ananas-Pokals war im späten 16. Jahrhundert sehr beliebt und wurde durch die Neorenaissance-Mode im späten 19. Jahrhundert erneut populär. Mit »klassischen Judaica-Objekten« hat dieser sonderbare Formtypus, den ich persönlich sehr kurios finde, herzlich wenig zu tun. Die Familie, die diesen Pokal dem Jüdischen Museum Berlin stiftete, nutzte ihn allerdings über mehrere Generationen hinweg als Elias-Becher. Dies bedeutet, dass sie ihn am Seder-Abend zu Beginn des Pessach-Fests – der in diesem Jahr am gestrigen Freitagabend (03.04.) stattgefunden hat – auf dem Tisch platziert haben muss, um Elias, der als Vorbote des Messias gilt, willkommen zu heißen. Die Verwendung des Objekts macht deutlich, dass dieser exotische Ananas-Becher seine volle Berechtigung in der Judaica-Sammlung des Jüdischen Museums Berlin hat.
Nicht selten widersetzen sich Judaica-Objekte, wie etwa der Ananas-Pokal, in der Praxis der Einordnung in theoretisch festgelegte Kategorien oder Kontexte und erfordern eine Flexibilität im Denken derjenigen, die sie zu erfassen, beschreiben und kategorisieren suchen. Und eben das macht meine Arbeit am Objekt so spannend und vielseitig.
Anna-Carolin Augustin arbeitet zurzeit als wissenschaftliche Volontärin im Sammlungsbereich Judaica und Angewandte Kunst.
Eine Frage zum Ananas Pokal, den ich in Berlin gesehen habe: kannt man aus ihm trinken, hat er oben einen glatten Rand? Oder ist der obere Abschluß gezackt?
Wir haben einen ähnlichen Pokal und können ihn nicht einordnen.
Freundliche Grüße
Hansgeorg Bankel