Ein Blick in die Fotosammlung der Familie Radzewski
Wir alle haben eine Familie – ob Vater, Mutter, Kinder, Enkel, Großeltern, Tanten und Onkel oder auch nur Verwandte, die man flüchtig von Familienfeiern oder Fotos kennt. »Der Onkel, der im Ausland lebte, der mit der Tochter und den Enkeln – erinnerst du dich denn nicht mehr?« Das haben wir alle wohl schon mal gehört.
Doch was passiert, wenn niemand da ist, der einem alle diese Geschichten immer wieder erzählt? Da bleibt nur ein Foto dieser Menschen – falls man Glück hat –, manchmal eine Postkarte, die jedoch schweigt. So geht es Menschen nicht nur im privaten Rahmen. Auch als Museumsmitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen wir Tag für Tag vor der neuen Herausforderung, insbesondere wenn wir von Stiftern eine Sammlung mit ihren Familienfotografien erhalten haben, die wir inventarisieren. Bei jedem Bild fragen wir uns: Wo war das, wer sind diese Menschen, sind sie nur Freunde oder nahe Verwandte? Was für eine Geschichte steckt hinter diesem Bild?
Zum Glück sind wir nicht alleine – denn die Stifterinnen und Stifter schenken uns meist nicht nur ihre Sammlung, sie erzählen und vertrauen uns ebenfalls ihre Erinnerungen an. So war es auch bei der Familiensammlung von Vera de Jong, geb. Krotoschiner-Radzewski. Vor einem Jahr übergab sie etwa 200 Fotografien den Mitarbeiterinnen der Fotografischen Sammlung unseres Museums (mehr Informationen zur Fotografischen Sammlung auf unserer Website). Meine Aufgabe als wissenschaftliche Volontärin war es nun, diese Bilder zu inventarisieren und ihre Geschichte zu recherchieren. Ich war sofort vom Charme der Bilder bezaubert und während der Recherche erschloss sich mir zudem ihr historischer Wert, denn anhand der Fotografien lässt sich die Geschichte der Familie über mehr als einhundert Jahre nachvollziehen.
Die älteste Fotografie dieser Familiensammlung stammt aus dem Jahre 1880 und zeigt einen Mann, der voller Stolz in einem Potsdamer Fotoatelier posiert. Es ist Salomon Max Radzewski, ein gebürtiger Russe und Veras Urgroßvater. Im 19. Jahrhundert floh er nach Ostpreußen, um dem Militärdienst zu entgehen. Dort traf er seine spätere Frau, Bertha Levin, mit der er drei Söhne hatte: Willy, Oskar und David, den Großvater unserer Stifterin. Willy fiel als Soldat der Preußischen Armee im Ersten Weltkrieg.
Meine Recherche wird zum Puzzle und die Informationen werden immer dichter, Schritt für Schritt. Die Brüder Oskar und David Radzewski, die auf dem Bild schicke Schnäuzer tragen, blieben unzertrennlich. Dies bezeugen die zahlreichen gemeinsamen Aufnahmen, hier mit vier eleganten Damen auf einem Bild. Leider ließ sich nicht ermitteln, wo diese Fotografie entstand und wer ihre Begleiterinnen waren – ein paar Fragen bleiben häufig offen, weil auch unsere Stifter natürlich nicht alle Details kennen können.
Auf einem weiteren Bild sehen wir David Radzewski etwa 15 Jahre später: Er ist nun verheiratet mit Frieda Neustadt und hat zwei Kinder, die Zwillinge Berndt und Meta. Meta, die Mutter unserer Stifterin Vera, emigrierte 1938 mit ihren Eltern auf dem Schiff »Patria« nach Chile. In Santiago de Chile lernte sie ihren späteren Ehemann und Veras Vater Walter Krotoschiner kennen.
Berndt flüchtete nach Palästina und nahm in seiner neuen Heimat den jüdischen Namen Benjamin an. Veras Großvater David Radzewski und ihr Vater Walter Krotoschiner verstarben beide in Santiago de Chile. So emigrierte Vera im Jahr 1967 mit ihrer Mutter Meta in die USA. Vor der Einreise in die USA besuchten die beiden allerdings noch Großmutter Frieda in Europa, die in der Zwischenzeit wieder nach Frankfurt am Main zurückgekehrt war. Bei diesem Besuch lernte Vera ihren jetzigen Ehemann Kurt de Jong kennen und zog schließlich der Liebe wegen ebenfalls nach Frankfurt am Main. Auch ihre Mutter Meta kam später dorthin nach.
Die Übergabe der Familiensammlung durch die Stifterinnen und das Erfragen und Recherchieren der Geschichte sind nur ein erster Schritt auf einem langen, aber spannenden, manchmal auch mühsamen Weg: Wir messen die Fotografien aus, prüfen den Zustand, beschreiben den Inhalt und dokumentieren sie samt Reproduktion in unserer hauseigenen Museumsdatenbank.
Wie wichtig diese Angaben sind, weiß ich durch meine kuratorische Arbeit in der Dauerausstellung (mehr Informationen zur Dauerausstellung auf unserer Website). Denn eine falsche Maßangabe in der Datenbank kann zu unnötigen Pannen bei der Ausstellungarbeit führen: So kann es passieren, dass ein Objekt schließlich nicht in die Vitrine passt. Die saubere Inventarisierung, eine umfassende Recherche zur Familiengeschichte und zum historischen Kontext und natürlich eine für alle Kolleginnen und Kollegen nachvollziehbare Dokumentation der Rechercheergebnisse sind für unsere Arbeit mit den Objekten zentral.
Alle Menschen haben eine Familie und die dazugehörigen Geschichten. Im Jüdischen Museum Berlin bilden die zahlreichen Familiensammlungen mit Fotografien, Briefen und Dokumenten sowie Objekten aller Art das Herzstück der Sammlung. Mit ihnen können wir deutsch-jüdische Familiengeschichten über Jahrzehnte, manchmal sogar über einen noch längeren Zeitraum erforschen und ausstellen und damit auch unseren Besucherinnen und Besuchern zugänglich machen.
Julia Kouzmenko wünscht sich, dass der Blogbeitrag die Leserinnen und Leser dazu ermutigt, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen, und freut sich, wenn der eine oder die andere Faszinierendes aus seiner oder ihrer Familiengeschichte im Kommentarfeld mit uns teilt.
In Erinnerung an Meta Krotoschiner, geb. Radzewski. Sie verstarb am 18. Oktober 2015 im Alter von 99 Jahren in Frankfurt am Main.
Estoy sentada acá en Santiago de Chile y al lado de Vera, la protagonista de esta historia tan interesante. Cuando estuve en ese museo este año, a fines de octubre 2015, sentí parecido: que lo que nos traen esos rostros, aunque no sean propiamente todos parientes nuestros, es la historial familiar de cada uno: sus caras curtidas, sus callosidades, las ropas que usaban, el mobiliario, y todo el ambiente en general. Si bien, fue triste fue enriquecedora esta visita pues me empapé de la Europa de distintas épocas….en especial de Alemania.
Muy positivo todo el montaje de las diversas exposiciones!!!!! Muy agradecida de las múltiples experiencias que uno vive en este Museo!!!!