Programmdirektorin Cilly Kugelmann über die Ausstellung »Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie«
Am 26. Februar 2016 eröffnet unsere große Retrospektive zu Boris Lurie (mehr Informationen auf www.jmberlin.de/lurie). Blogredakteurin Mirjam Bitter sprach mit Cilly Kugelmann über den Künstler, seine provokative Kunst sowie Tabu-Brüche heute und vor 50 Jahren.
Mirjam Bitter: Liebe Cilly, was ist deine Perspektive auf Boris Lurie? Was war er für ein Mensch? Was macht ihn als Künstler aus?
Cilly Kugelmann: Boris Lurie war als Mensch und als Künstler geprägt von seinen Verfolgungs- und Lagererfahrungen während der NS-Herrschaft. Und doch ist er im Vergleich zu anderen Künstlern mit diesen Lebenserfahrungen aus meiner Sicht nicht als »Holocaust-Künstler« zu bezeichnen. Weder hat er als Chronist die Ereignisse festgehalten, abgesehen von frühen Zeichnungen von 1946 und einigen Gemälden aus den späten 1940er Jahren, noch sind seine Werke künstlerische Interpretationen des Holocaust.
Welche Rolle spielt der Holocaust dann für Luries Werk?
In seinen Werken zeigt sich das Zerstörerische des Verfolgungsprozesses, den Lurie selbst erlebt hat. Es thematisiert auch die Erkenntnis, dass fast niemand, der einen solchen Prozess durchlaufen hat, danach in ein ›normales‹ Leben zurückfinden wird. Viele Überlebende haben die Verfolgungserlebnisse abgespalten oder durch den intensiven Gebrauch von Tabletten überdeckt und sind viel zu früh gestorben. Lurie dagegen hat seine Wut und seine Verzweiflung über eine Menschheit, die zu einem bis dahin unbekannten Vernichtungsfeldzug fähig war, in Kunst umgesetzt. Das war seine Art, als ein aus der Welt Gefallener zurechtzukommen, der nirgendwo mehr heimisch werden sollte.
Zugleich konfrontierte Lurie seine Zeitgenossen mit ihrem als verlogen und obszön wahrgenommenen Umgang mit diesen geschichtlichen Ereignissen. Die amerikanische Gesellschaft, in der er seit 1946 lebte, hatte keinerlei historischen und psychologischen Zugang zu seiner Erfahrung. Sie griff das Thema der Massenvernichtung an den europäischen Juden in einer popularisierenden Weise auf, inmitten von Werbung und Gesellschaftskolportagen. Den Gegensatz zwischen einem als bloß gefällig wahrgenommenen Kunstbetrieb und seinem künstlerischen Anspruch auf Widerstand verarbeitete Lurie in zahlreichen herausfordernden Arbeiten.
Deshalb der Ausstellungstitel »Keine Kompromisse!«? Weil Lurie sich nicht mit dieser Gesellschaft und ihrer oberflächlichen Rezeption des Holocaust arrangieren wollte?
Nicht nur des Holocaust! Er kämpfte ebenso gegen einen Kunstbetrieb, der sich nur für das Geschäft von Angebot und Nachfrage zu interessieren schien und jedes politische Engagement vermissen ließ. Wir wollten einen Ausdruck für Luries Kampf gegen eine Gesellschaft finden, die in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg weder in der Lage noch willens war, die Erfahrungen der Opfer des Holocaust zu begreifen, und die nicht bereit war, Kriege und Völkermorde in der Zukunft zu verhindern
Weil Lurie dem Kunstbetrieb skeptisch gegenüberstand, rechnete er auch nicht damit, dass sich seine provokanten Arbeiten verkaufen würden. Stattdessen verdiente er Geld, indem er an der Börse spekulierte. Und das tat er so erfolgreich, dass er nach seinem Tod ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hat. Es wird von der Boris Lurie Art Foundation verwaltet, die nun auch unsere Ausstellung großzügig unterstützt.
Haben Luries Kunstwerke heute eine andere Wirkung als zu ihrer Entstehungszeit?
Das wird sich erst mit der Ausstellung herausstellen. Diese Frage muss ich wohl an diejenigen zurückgeben, die heute erstmals mit Luries Werk in Kontakt kommen. Was ist denn deine Meinung?
Ich denke, dass zumindest die pornografischen Anteile seiner Collagen heute weniger tabubrechend sind. Allerdings hat noch vor knapp zehn Jahren Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten mit seiner Verbindung von Pornografie und Holocaustdarstellung aus der Täterperspektive für Diskussionen gesorgt. Luries Collagen, die Leichenberge und käufliche weibliche Sexualität zusammenbringen, sind also immer noch provokant. Man ist zuerst irritiert, sogar abgestoßen, wird aber gerade dadurch zum Nachdenken angeregt. Schließlich ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und deren Konsequenzen für heutiges Handeln ja noch immer nicht die Regel. Häufig wird »Holocaust-Kitsch« produziert, weil sich das Thema »gut verkauft«. Trotzdem habe ich mich persönlich beim Betrachten von Luries Collagen weniger nach ihrer gegenwärtigen Schlagkraft als nach ihrem historischen Entstehungskontext gefragt.
Ein gravierender Unterschied zu heute ist, dass noch kaum Details der NS-Verbrechen bekannt waren, als Lurie seine ersten Arbeiten schuf. Als 1953 in der Fernsehshow »This is your life« einmal das Leben von Hanna Bloch Kohner, einer Auschwitz-Überlebenden, im Mittelpunkt stand, konnte der Moderator kaum den Namen des Lagers aussprechen und äußerte zudem die Vermutung, der Insassin seien dort »nur ein Handtuch und eine Seife« ausgehändigt worden, worauf Hanna Kohner irritiert antwortete, dass sie sich an die Seife nicht erinnern könne.
Aufzeichnung der Fernsehsendung »This is your life« mit Hanna Kohner, ab Minute 10:00 geht es um ihre Deportation.
Leute mit Erfahrungen, wie Lurie sie gemacht hatte, waren also damals ganz auf sich gestellt – noch dazu in den USA, wo nicht wie in Deutschland alles zerstört war. Luries Stärke ist, dass er seine Erlebnisse nicht in symbolistische Bilder übersetzt hat, sondern in der Lage war, seine Wut und Abscheu über die Verhältnisse, die den Massenmord möglich gemacht haben, nie aufzugeben – in diesem Sinne ist seine Kunst einzigartig.
Herzlichen Dank für das Gespräch! Vielleicht teilen über die Kommentarfunktion unseres Blogs ja noch einige Leserinnen und Leser dieses Interviews ihre Eindrücke, wie Luries Bilder heute wirken.
Zum besseren Verständnis der Werke von Boris Lurie unbedingt lesen „Boris Lurie: Geschriebigtes Gedichtigtes“, ISBN 3-9807794-0-8. Dies empfiehlt ein langjähriger Freund und Förderer von Boris.