Fünf schwarz-weiß Fotografien einer fast unbekleideten Frau in verschiedenen aufreizenden Posen, beschmutzt und schief auf Kartonpapier geklebt. Darauf ein mit gelblicher Farbe beschmierter Davidstern. Neben dem weißen Karton ist ein brauner Dildo befestigt. Diese Konstellation an Dingen sieht auf den ersten Blick wie wertloser Abfall aus. Gegenstände, die auf der Erde gelegen und Dreck und Flüssigkeiten abbekommen haben und nun neben- und aufeinander gelegt worden waren. Das Werk von Boris Lurie, das in unserer aktuellen Ausstellung »Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie« (weitere Informationen zur Ausstellung auf unserer Website) zu sehen ist, hat keinen Namen, die Jahresangabe ist uneindeutig.
An diesem Bild blieb ich hängen, als ich vor etwa einem Jahr begann, über das pädagogische Programm zu Boris Lurie nachzudenken und mich an meinem Computer durch einen Ordner mit Fotos von Werken klickte, die für unsere Ausstellung interessant schienen. Mich irritierte meine Reaktion auf die Collage aus zwei- und dreidimensionalen Objekten: ein Schwanken zwischen Ekel und Verunsicherung. Ich wollte die Worte »obszön oder geschmacklos« in den Mund nehmen und fand sie unpassend. Das Bild tat weh. Ich fragte mich, wie Schüler*innen auf die Kunst von Boris Lurie reagieren würden. Auf Grund meiner eigenen Erfahrung war mir sehr schnell klar, dass wir es schaffen müssten, mit den Besucher*innengruppen gemeinsam über die Bilder zu sprechen. Wir würden eine Brücke brauchen, nur welche?
In unserer Ausstellung zeigen wir Boris Luries Werke aus den 1950er bis 1970er Jahren. Es ist die Zeit des Kalten Krieges. Boris Lurie ist als Überlebender der Schoa in die USA gekommen und trifft auf eine Gesellschaft, die diese als ein Ereignis unter vielen anderen betrachtet. Seine Wut und Verzweiflung über das, was geschehen war, und die ungenügende Auseinandersetzung damit in der Nachkriegsgesellschaft Amerikas schreit er aus seinen Werken nicht nur mit dem in seinen Arbeiten dominanten Wort »NO« immer wieder heraus, sondern auch durch die Motivkombinationen, die Auswahl der Materialien und deren Bearbeitung. Vieles erschließt sich, je mehr die Besucher*innen von seinem Leben erfahren.
In der Arbeit mit Gruppen möchten wir jedoch den Besucher*innen einen eigenen Zugang zu den Bildern ermöglichen, der bewirkt, dass sie über die Bilder sprechen. Unsere »Brücke« dafür ist eine Art Kartenspiel. Auf den Karten steht jeweils ein Begriff wie WUT, SEHNSUCHT, MACHT, SCHMERZ oder MARKT. Es gibt aber auch leere Karten, die mit Begriffen durch die Besucher*innen ergänzt werden können.
Bevor die Karten gezogen werden, geht es zunächst darum, Boris Lurie als Menschen und Künstler kennenzulernen. Anschließend stellen wir einzelne Werke vor. Unsere Schüler*innen äußern sich bis zu diesem Punkt meist eher zögerlich zu den Bildern. Nun, nach einer Annäherung an Luries Leben und sein Werk, ziehen sie aus dem Kartenstapel eine Wortkarte. Ihre Aufgabe ist es, in kleinen Gruppen ein Bild oder eine Skulptur zu suchen, welche zu dem Begriff passt. Die Teilnehmenden bewegen sich frei in der Ausstellung und orientieren sich dabei an dem Wort auf ihrer Karte. Anschließend stellen sie das ausgewählte Werk vor. Die Auseinandersetzung damit anhand eines Begriffs erleichtert das Sprechen darüber, weil der Begriff vor dem eigenen Statement liegt. Der Begriff ist die Brücke zum Sprechen.
Heute ist eine Schulklasse zu Besuch: Eine Kleingruppe hat das Wort »Lust« gezogen und sich eine von Lurie veränderte Fotografie ausgesucht, die in ihren Augen zwar nicht sexuelle Lust hervorruft, aber die ursprüngliche Absicht des Bildes sollte dies bewirken. Die Fotografie zeigt eine Frau, die mit ihrer Hand in ihren Slip fasst und ihren Intimbereich verdeckt. Das Original-Foto ist in den Augen der Gruppe das erotischste Bild in der Ausstellung. Lurie hat den Körper der Frau in weiße Papierfetzen gebettet, das Gesicht mit Papier unkenntlich gemacht. Durch die Bearbeitung stechen die Brüste aber umso mehr hervor. Die Gruppe diskutiert über die Widersprüche im Bild und ob das Bild sexistisch ist.
Eine andere Gruppe hat auf eine leere Karte das Wort »Reduzierung« geschrieben und ein Bild der Serie »Dismembered Women« ausgewählt. Sie hat das Wort für die Bildserie gewählt, weil die Körper der Frauen auf abgetrennte Einzelteile reduziert sind. Gleichzeitig sind diese Körperteile extrem fett. Auch hier findet sich ein Widerspruch: zwischen dem zu viel an Körper und dessen Zerstückelung. Eine weitere Gruppe diskutiert über die Verfügbarkeit weiblicher Körper und über die Bordelle in den Konzentrationslagern. Sie sprechen ebenfalls über die Ambivalenzen, die die Kombination von Körpern, deren Warencharakter und Gewalt auslöst. Sie fragen sich, ob Lurie Gefallen an den pornografischen Bildern fand. Und was geschieht mit dem eigenen Blick? Noch unsicher, wie sie Luries Arbeiten beurteilen wollen, sind die Schüler*innen von dem Besuch positiv überrascht, weil die Kunst so aktuell ist und politisch. Und weil sie der Kunst im Gespräch begegnen konnten.
Nina Wilkens dankt den Besucher*innengruppen für ihre Statements sowie den Referent*innen der Ausstellung für ihre Unterstützung.
Weitere Informationen zum pädagogischen Programm der Ausstellung »Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie« auf unserer Website im Bereich »Kinder, Schüler, Lehrer«.