Zu Besuch bei der Fotografin und Architektin Birgit Glatzel
Es ist ein warmer Sommertag, als ich Birgit Glatzel im Prenzlauer Berg besuche. So ähnlich muss das Wetter an dem Tag gewesen sein, an dem ihre Fotografie »Angela and Me« entstanden ist, die ebenso wie ihr Kurzfilm »Going to Jerusalem« seit April in unserem Kunstautomaten zu erwerben ist (mehr Infos auf unserer Website).
»Angela and Me« ist Teil einer Serie, in der sich die Künstlerin per Selbstauslöser mit Freund*innen porträtiert. Alle Aufnahmen entstehen mit einer Rolleiflex-Kamera von 1937, Ort und Situation werden stets gemeinsam ausgewählt. Begonnen hat Birgit mit dem Projekt kurz vor ihrer Auswanderung nach Israel 2007; dorthin wollte sie Erinnerungsfotos an ihre Freund*innen in Deutschland mitnehmen. »Die Erinnerung hat im Judentum einen hohen Stellenwert, auch in einer renovierten Wohnung lässt man zum Beispiel immer ein Stück Original«, erklärt mir die Künstlerin, die gelernte Architektin ist und, um sich zu finanzieren, weiterhin als solche arbeitet.
Bevor ich mit Birgit über ihre Kunst spreche, zeigt sie mir ihr Wohnatelier, wo sie mit ihrem Sohn lebt, seit sie nach Berlin zurückgekehrt ist. Ich bin begeistert von den verschiebbaren Wänden, hinter denen sich das Badezimmer der großen Einraumwohnung verstecken lässt. Dann erzählt Birgit mir, dass »Angela and Me« sie gemeinsam mit ihrer Freundin Angela zeige, deren Geburtstag sie im Sommer 2014 zu zweit am Müggelsee feierten. Zu sehen sind jedoch nur die Beine der beiden Frauen, die auf einer Schaukel stehen, sowie bei genauerem Hinsehen ein Mann im Hintergrund, der direkt in die Kamera blickt.
»Stört es dich eigentlich, dass da einfach jemand in euer Bild gelaufen ist?«, frage ich Birgit. Nein, der gehöre dazu, weil er den Zufall und den Überraschungseffekt zeige, den der verzögerte Selbstauslöser bedingt. »Ich wusste schon im Moment der Aufnahme, dass es das Foto geworden ist.« »Und was sagst du dazu, dass dein privates Erinnerungsfoto nun bei anderen Leuten zu Hause hängt?« »Diese unkontrollierbare Zerstreuung meiner Kunstwerke finde ich toll. Und da unsere Gesichter nicht zu sehen sind, ist es gleichzeitig anonym genug.« Für die Foto-Serie gibt es mittlerweile schon eine Warteliste, weitere Freund*innen wollen Teil des Projekts werden.
Auch bei anderen Projekten arbeitet Birgit Glatzel am liebsten mit einem*einer Partner*in, denn so entstehen die besten Ideen. So war es auch bei dem Kunstfilm »Going to Jerusalem«, den sie gemeinsam mit dem Animations-Filmemacher Benjamin Seide gedreht hat. Er entstand bereits vor zehn Jahren als Beitrag zu einer Ausstellung in Jerusalem mit dem Thema »Land(e)scaping«. Benjamin und Birgit wollten darin die fünftausendjährige, komplexe Geschichte Jerusalems auf unterhaltsame Weise thematisieren, ohne sie lächerlich zu machen. Die Idee gab schließlich eine Schneekugel mit einer Stadtsilhouette von Jerusalem und einem Kamel, die Birgit von einer Freundin, Hagar aus Israel, geschenkt bekommen hatte: Die beiden beschlossen, die Silhouette der Stadt aus ihrer Schneekugel zu »befreien« und sie in Begleitung des Kamels auf »Weltreise« zu schicken. Dafür zerstörten sie die Schneekugel und nutzen die beiden Motive als »Hauptdarsteller« für ihren Film. Drehorte waren unter anderem das Eisfach von Birgits Kühlschrank sowie die Baustelle auf dem Spielplatz gegenüber ihrer Wohnung. »Seltsamerweise hat in Israel niemand über den Film gelacht, obwohl er so absurd ist – man sieht zum Beispiel das Kamel in einer Seilbahn in den Alpen schwebend«, wundert sich Birgit. »Deine Kollegin Gelia Eisert war die erste, die den Film lustig fand.« »Ich habe auch sehr gelacht,« kann ich Birgit beruhigen.
Da der Film nach der Ausstellung in Jerusalem nur ein weiteres Mal öffentlich gezeigt wurde, hat die Künstlerin ihn für sein Weiterleben nun auf einem USB-Stick in unseren Kunstautomaten gesteckt. Aufgeklebt ist der Stick auf eine Postkarte, die das Kamel in der Seilbahn zeigt. In liebevoller Handarbeit ist die Karte mit Kamelköpfen bestempelt, die Benjamin Seide und Birgit Glatzel selbst gestaltet haben. »Die Arbeit mit Benjamin war ein großer Spaß«, lacht Birgit, »das war eine charmante und ganz besondere Zusammenarbeit, bei der Filmproduktion und genauso viele Jahre später beim Gestalten der Karten. Leider war das bisher unser einziges gemeinsames Projekt.«
Ganz besonders am Herzen liegt Birgit Glatzel immer noch ihr erstes großes Langzeitprojekt, in dem sich die beiden Motive aus den anderen Kunstwerken wiederfinden: Freundschaft und Reisen. Dafür kam zum ersten Mal die Rolleiflex zum Einsatz – ihre Kamera für besondere Gelegenheiten: Ein Foto kostet etwa 2 Euro, da überlegt man zweimal, ob man auf den Auslöser drückt. Für »A Friend is a Friend of a Friend« schickte sich Birgit vier Jahre lang selbst auf Reisen und besuchte auf der ganzen Welt erst Freund*innen, dann Freund*innen dieser Freund*innen und so weiter, insgesamt 340 Menschen teilweise bis ins sechzehnte »Freundschaftsglied«. »Ich wollte damit vorleben, dass man es anders machen kann und dass das Internet nicht das persönliche Erlebnis ersetzt.«
Von allen Freund*innen und deren Freund*innen, die Birgit Glatzel traf und bei denen sie zuweilen übernachtete, machte sie ein Foto mit ihrer Rolleiflex. Die Kamera war dabei immer ein guter Einstieg für ein erstes Treffen mit den meist fremden Leuten: »Es ist ein Element, das alle kennen, gleichzeitig kann man damit unauffälliger Fotos machen, das schüchtert nicht so ein.« Die Rolleiflex war ein Zufallsfund: »Ich wollte schon immer eine solche Kamera haben und als ich auf der Suche nach einem Blitz für einen anderen Fotoapparat war, habe ich sie entdeckt.« Das Fotoprojekt mündete in eine Ausstellung und viele Jahre später in ein Buch, das Birgit Glatzel mit einer mehrmonatigen Crowdfunding-Kampagne finanzierte. Darin sind Fotos von sehr vielen, sehr unterschiedlichen Menschen aus der ganzen Welt in ihrem privaten Umfeld zu sehen. Im Anhang listet eine Tabelle alle Abgebildeten auf, sortiert nach Wohnort, Beruf oder »Freundschaftsclan«, wie Birgit es nennt.
Zum Abschluss darf auch ich einmal durch die Rolleiflex schauen. »Man sieht alles spiegelverkehrt«, sagt Birgit, »aber es fällt mir gar nicht mehr auf.« Außerdem schenkt sie mir ein Exemplar von A Friend is of a Friend of a Friend, Nummer 184 von 300, handsigniert, als Erinnerung an den gemeinsamen Nachmittag in Birgits Atelier, der wie im Flug vergangen ist. Das Buch liegt nun auf meinem Schreibtisch und erinnert mich daran, dass man sich viel öfter selbst auf Reisen schicken sollte oder Freund*innen besuchen oder Menschen treffen, die man (noch) nicht kennt.
Mariette Franz war vor Kurzem auch auf Birgits Spuren unterwegs, aber vorerst nur am Müggelsee.
Mehr Informationen über Birgit Glatzel auf ihrer Website http://birgitglatzel.de/.