»#FreeDeniz« strahlt mir die Leuchtanzeige des Axel-Springer-Hochhauses in Schwarz auf Türkisgrün entgegen, wenn ich mein Büro im Jüdischen Museum verlasse und aus dem Nordflügel der W. Michael Blumenthal Akademie ins Freie trete. Beim ersten Sehen habe ich mich noch über das Signal gefreut, mit dem die Axel Springer SE* die Freilassung des Türkei-Korrespondenten der WELT, Deniz Yücel, anmahnt. Doch mit jedem Tag wird es trauriger, die Anzeige sehen zu müssen. Ich kenne Deniz Yücel seit 2003, als er mit anderen Berliner*innen deutsch- und türkischsprachige Proteste gegen die Sprengstoffanschläge auf die beiden Istanbuler Synagogen Neve Shalom und Beth Israel vom 15. November organisierte. Bei den Anschlägen waren 24 Menschen getötet, etwa 300 verletzt worden.
Seit Längerem hatten Deniz und ich keinen Kontakt mehr; doch seit Mitte Februar kommen durch Nachrichten über seine Verhaftung wegen »Terrorpropaganda« und darauf folgende Autokorsi, Gespräche mit Freund*innen oder eben die Leuchtanzeige die Erinnerungen an 2003/2004 wieder auf, als wir fast wöchentlich miteinander zu tun hatten. Deniz gehörte zu einer Gruppe von Freund*innen, die mich frischgebackene, aber unwillige Lehrerin aus Hamburg als pädagogische Verstärkung für ein ungewisses Projekt rekrutierten, die später auch international bekannte »Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus« (KIgA). Sie ging aus der »Migrantischen Initiative gegen Antisemitismus« hervor, die eine Gedenkkundgebung für die Opfer der Anschläge von Istanbul organisierte. »›Wir wollen unseren Abscheu vor dem Terror öffentlich kundtun‹, so Deniz Yücel, einer der Initiatoren. Denn in der türkischen Gesellschaft – und damit auch in den Berliner Migranten-Communities – sei Antisemitismus quer durch alle Schichten weit verbreitet«, stand damals dazu in der taz.
Den Weg von der Migrantischen zur Kreuzberger Initiative ging Deniz nicht mit, er war aber als Mitbewohner und enger Freund irgendwie doch immer dabei, von der Konzeptentwicklung über Mittelakquise und erste Umsetzungen mit echten Partner*innen und wirklichen Jugendlichen bis zu Neuantrag, Streit und Publikation der Ergebnisse. Wie als Autor der Jungle World, der taz, der WELT und von Beiträgen in Sozialen Medien hatte Deniz auch als Freund und Mitbewohner eigene und überzeugte Positionen zu unseren Aktivitäten – und wir anderen ebenfalls: »Man kann doch jetzt nicht zum Ausländerbeauftragten rennen und die ›Türken‹ oder ›Migranten‹ zu den größten Antisemiten machen!« – »Deutschtürken.« – »Warum nicht Türkdeutsche?!« – »Jetzt gewinnen die Islamisten die Oberhand, man muss dem selbst was entgegensetzen!« – »Ausländerbeauftragte muss man abschaffen, nicht mit ihnen zusammenarbeiten.« – »Islamistisch sind auch Deutsche, also ohne Türk oder sonstwas davor.« – … Ungefähr so kann man sich uns am runden WG-Tisch in der Mariannenstraße vorstellen.
Nach meinem Ausscheiden aus dem Berliner Projekt schlief zwar der Kontakt ein, doch Deniz begegnete mir unversehens in der Fachliteratur. Migrationsforscher*innen greifen Erlebnisse wie seine Erinnerung an eine Lehrerin gerne auf, um gerade anhand von Beispielen »erfolgreicher Migrantenkinder« Alltags- und institutionellen Rassismus zu illustrieren: »Als ich ihre Frage nach irgendwelchen hessischen Mittelgebirgen als Einziger richtig zu beantworten wusste, brüllte sie die Klasse an: ›Schämt euch, der Türke weiß es besser als ihr!‹« (s. taz) Die Kenntnis des deutschen Bodens macht noch keinen Deutschen, und auch Sprache wird als Grenzmarkierung herangezogen, gerade wenn man es besser weiß und sich mit Ironie über die Dinge stellt: Z.B. wird die von Deniz häufig gebrauchte Formulierung »wo gibt«, etwa in »Land mit freiste Presse wo gibt« (s. Facebook), beispielsweise hier im Spiegel fälschlicherweise wohlwollend als »immigrantische Färbung der deutschen Sprache« bezeichnet. Dabei warnte uns meine Deutschlehrerin schon Mitte der 80er-Jahre vor dem Gebrauch des umgangssprachlichen und auch dialektalen »wo« als Relativpronomen, als Immigrant*innen noch nicht so viel öffentlich sprachen. Schnell noch die kürzeste Flexionsform setzen – »mit der freiesten Presse« ist eh zu lang für Twitter – und schon ist man der Türke, der in der Schule »Mathe für Ausländer« (s. taz) besuchen musste.
»Hate Poetry« war nach meiner Arbeitsmigration nach Berlin 2012 ein Anlass, Deniz wiederzusehen. Bei den Shows lesen Journalist*innen rassistische Briefe und Emails usw. vor, die sie meist allein schon auf Grund ihres Namens erhalten. Neben Beleidigungen aller Art gehören Tötungsphantasien wie »vergasen« dabei zu den freundlicheren Androhungen. Mely Kiyak, Yassin Musharbash, Ebru Taşdemir und Deniz traten unter Moderation von Doris Akrap in verschiedenen Kategorien in den Wettbewerb und machten eine antirassistische Party aus dem Ganzen. Manchmal wird eine Show auch zum Faschingsfest mit Kostümen und Utensilien der aktuellen Feindbilder der Deutschen. Deniz legte sich jedes Mal richtig ins Zeug, und ich vermutete, er würde als nächstes Schauspieler werden.
Trotz oder wegen oder mit dem »Gefühl, dass Mathe für Ausländer nie aufgehört hat« (s. taz), ist Deniz ein öffentlicher Türke und ist der Ansicht, Autokorsi – mit denen jetzt öffentlichkeitswirksam für seine Freilassung demonstriert wird (s. Tagesschau) – seien eine Wesenseigenschaft der Türken, jedenfalls derjenigen mit Deutsch davor (s. Jungle World). Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, welche beiden Mitstreiter*innen am damaligen WG-Tisch die Idee mit den Protestkorsi hatten. Ein anderer Freund und früherer Streiter für die Sache meint wiederum, die Neonazis waren in den 90ern die ersten, die mit Autokorsos (Plural jetzt natürlich Deutsch) Siege im Fußball gefeiert hätten. Ich hätte damals ins Feld geführt, hör gut zu, Deniz: »Kor-so ist ja wohl Italienisch, ja! Und wer gewinnt beim Fußball immer?!« So hätte ich dank Vater aus Italien das High Five der Freund*innen und das letzte Stück Pizza auf dem Tisch eingeheimst und »Mehrzahl ist natürlich Korsi« nachgesetzt.
Jetzt ist außer Korsos Diplomatie gefragt. Außenminister Sigmar Gabriel hält Deniz für ein »tolles Beispiel für das, was in Deutschland gelungen ist in den letzten Jahren« (s. Tagesschau). Bleibt zu hoffen, dass nicht nur Mathe für Ausländer aufgehört hat, sondern Diplomatie für Ausländer gar nicht erst anfängt.
Rosa Fava kann bei ihrer aktuellen Arbeit als W.M. Blumenthal Fellow zur Didaktik des Nahostkonflikts noch immer gut auf das das Hintergrundwissen über Antisemitismus in der Türkei zurückgreifen, mit dem Deniz und Freund*innen sie damals versorgten.
↑* Societas Europaea
Aktuelle Informationen zur Situation von Deniz Yücel finden sich unter: https://www.facebook.com/FreundeskreisFreeDeniz/?fref=ts
Und hier geht es zur Support-Website: http://freedeniz.de/
Ein Beitrag, der mich nachhaltig beschäftigt. Danke Rosa Fava!