Die italienische Autorin Elena Loewenthal erzählt von starken jüdischen Frauen in der Tora
Noch bis zum 27. August ist die aktuelle Ausstellung Cherchez la femme zu sehen, die sich aus weiblicher Perspektive mit religiösen Kleidungsvorschriften für Frauen auseinandersetzt (mehr zur Ausstellung auf unserer Website). Als ich vom Thema der Ausstellung erfuhr, fiel mir gleich der Roman Attese (2004) der italienischen Autorin Elena Loewenthal ein. (Der Buchtitel kann auf Deutsch sowohl »Erwartungen« als auch »Wartezeiten« bedeuten). Der Roman erzählt in vier großen Kapiteln die Geschichte verschiedener jüdischer Frauenfiguren. Eigentliche Hauptfigur des Romans ist jedoch ein geheimnisvoller Schleier, der die Protagonistinnen von biblischen Zeiten bis ins heutige Venedig hindurch begleitet.
Der Schleier kann als Metapher für ein von Frauen bewahrtes und weitergegebenes jüdisches Gedächtnis gelesen werden, das Erinnern und Vergessen, Tradition und Erneuerung miteinander verbindet. Denn jede der Frauenfiguren im Roman legt den Schleier nicht nur aus kulturellen Gründen etwa für Trauerzeiten an, sondern gestaltet ihn auch selbst um, näht eigene Fäden ins Gewebe, oder pflegt zumindest einen sehr eigenwilligen Umgang mit dem geerbten Kleidungsstück.
Das erste Kapitel widmet die Autorin, die neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und Übersetzerin aus dem Hebräischen ins Italienische auch Dozentin für Jüdische Studien an der Universität Vita-Salute San Raffaele in Mailand ist, den beiden biblischen Figuren Rebekka und Tamar. In einem Interview gab Elena Loewenthal folgende Antwort auf die Frage, warum dem Schleier im Roman so eine große Bedeutung zukomme:
»Allein die Idee, dass eine Frau sich verhüllt, um sich zu enthüllen, hat eine unheimliche Faszinationskraft. Heute spricht man viel von Verschleierung als Instrument des Ausschlusses: von Frauen, die sich verschleiern, um sich – außer vor ihrem Ehemann – vor der ganzen Welt zu verstecken. Rebekka und Tamar, die einzigen Frauen der Bibel, die einen Schleier tragen (weshalb ich von ihnen erzähle), tun das Gegenteil: Sie nutzen den Schleier dazu, zu verführen und sich von dem Mann, den sie haben wollen, erkennen zu lassen, und sie verschleiern sich genau in dem Moment, in dem er ankommt. Das fand ich sehr schön.«
Aus Genesis 24 kennen wir die Geschichte, wie Abraham seinen Diener Elieser ausschickt, um für seinen Sohn Isaak eine Braut aus dem Lande seiner Geburt nach Kanaan zu holen. Dort trifft er die junge Rebekka, die – für biblische Frauenfiguren sehr selbstbewusst und sprachmächtig – ihrer Familie antwortet: »Ja, ich will mit ihm ziehen!« (Genesis 24, 58). Von dieser Geschichte erzählt Loewenthal vor allem den Schluss ausführlicher, nämlich die Verschleierungsszene beim Treffen auf Isaak, die sie als Liebesgeste interpretiert.
»Rebekka war sich dieser blinden Liebe sicher […]: Isaak wusste nichts von ihr […]. Isaak [war] ahnungslos, Rebekka nicht. Deshalb, vielleicht, und nicht, um sich zu verbergen, nahm sie den Schleier und verhüllte sich, sobald sie ihn von weitem ausgemacht hatte, dort, wo sich der Blick fast verliert. Das Tuch vom Weg zerknittert, durchwoben von Erwartung und Hoffnung, eine instinktive Geste, aber auch eine herzliche.« (Attese, S. 10, Deutsch von Mirjam Bitter)
Aus Isaaks Sicht ist die Verschleierungsgeste vor allem durch Bewegung gekennzeichnet, eine »Zeichnung in der Luft« (Attese, S. 20). Diese Geste bringt auch Bewegung in Isaak und holt ihn aus seinem Trauma der Beinahe-Opferung durch den Vater zurück in die Gegenwart (auch der sogenannten »Bindung Isaaks« hat das Museum schon eine Ausstellung gewidmet, mehr zu Gehorsam auf unserer Website). In Loewenthals Roman sieht Isaak ansonsten vor allem Rebekkas Augen und dass sie den Blick nicht senkt, was erneut ihr Selbstbewusstsein ausdrückt.
Mit Tamar erzählt der Roman dann von einer nicht ganz so prominenten, aber ebenfalls eigenwilligen biblischen Frauenfigur aus Genesis 38. Bei ihr dient der Schleier durchaus der Verhüllung, aber zugleich auch der Verführung. Denn mithilfe des Schleiers bringt Tamar ihren Schwiegervater Juda dazu, ein Kind mit ihr zu zeugen. Ihr abgeschnittenes Haar, das Zeichen einer Witwe in Trauer, wird verborgen, und so hält Juda seine Schwiegertochter für eine Dirne. Auf diese Weise stillt Tamar endlich ihren »Mutterdurst« (Attese, S. 27) und erlangt ihr Recht auf Mutterschaft.
Zur Erläuterung: Juda wollte der verwitweten Tamar seinen jüngsten, aber inzwischen erwachsenen Sohn Sela nicht zum Mann geben, wie es die Tradition vorgesehen hätte. Er hatte Angst, dass auch Sela, wie seine zwei älteren Brüder vor ihm, frühzeitig sterben könnte. Was in Loewenthals Buch nicht mehr erwähnt wird, aber in der Tora steht, ist, dass Tamar durch die mit Juda gezeugten Zwillinge Serach und Perez den Fortlauf der jüdischen Geschichte sichert – gehört Perez doch zum Stammbaum König Davids.
Die Autorin eröffnet so nicht nur einen neuen Blick auf zwei interessante Frauenfiguren der Bibel, sie führt den Leser*innen auch vor Augen, dass Verschleierung nicht zwangsläufig mit Unterdrückung assoziiert werden muss, sondern selbstbestimmt sein und eigenen Anliegen dienen kann.
Dr. Mirjam Bitter, Redakteurin von Blogerim und Literaturübersetzerin aus dem Italienischen, hofft immer noch darauf, den Wunsch ihres Doktorvaters zu erfüllen und irgendwann einen deutschen Verlag zu finden, für den sie den Roman Attese übersetzen kann.
Ausführlicher mit dem Schleier als weiblich codierter Gedächtnismetapher in Elena Loewenthals Attese habe ich mich im Kapitel »Erlösungsfiguren? Geschlechtercodierte Gedächtnismetaphern zwischen Entsakralisierungsabsicht und Sinnstiftungstendenzen« meiner Studie Gedächtnis und Geschlecht. Darstellungen in der neueren jüdischen Literatur in Deutschland, Österreich und Italien (Wallstein 2016) beschäftigt.