Erste Episode unserer Blogserie: »Erinnerungen aus dem Leben Walter Frankensteins«
Wenn ich das Bild von dem Säugling in seinem Kinderwagen betrachte, ist für mich nur schwer vorstellbar, dass dies dieselbe Person ist, die mir noch vor wenigen Wochen in Stockholm im Alter von beinahe 93 Jahren gegenübersaß. Noch schwerer vorstellbar ist für mich das bewegte Leben, das zwischen diesen Momenten liegt und vielfach von plötzlichen und zum Teil tragischen Wendungen sowie mutigen Neuanfängen geprägt war.
Ich spreche hier von Walter Frankenstein, der dem Jüdischen Museum Berlin über 1.100 Fotografien geschenkt hat. Bilder, die sein gesamtes Leben von den frühesten Tagen seiner Kindheit bis ins hohe Alter abbilden. Die Aufnahme im Kinderwagen ist das älteste Foto in der Sammlung. Es zeigt Walter im Februar 1925 im Alter von siebeneinhalb Monaten auf einem Gehweg in seiner Geburtsstadt Flatow (heute Złotów), in der er am 30. Juni 1924 zur Welt kam. Sein Vater Max Frankenstein besaß dort einen Landhandel und eine Gastwirtschaft, die er von den Eltern seiner ersten Ehefrau, Emma Frankenstein, übernommen hatte. Nachdem Emma 1917 an einer Blutvergiftung gestorben war, hatte er 1923 Walters Mutter, Martha Frankenstein geb. Fein, geheiratet.
Obwohl Walter Frankenstein auf dem Foto vom Herbst 1928 etwas missmutig dreinschaut,verbrachte er seine ersten unbeschwerten Lebensjahre in einer liebevollen Umgebung. Auf dem hier erwähnten Foto ist Walter als preußischer Husar verkleidet. Das Kostüm war ein Geschenk seines Onkels Selmar Frankenstein, der im Ersten Weltkrieg als Oberstabsarzt in Hindenburgs Hauptquartier bei Tannenberg sowie als Leibarzt des Kronprinzen Rupprecht von Bayern gedient hatte und dafür mit mehreren Orden ausgezeichnet worden war. Seine patriotische, deutschnationale Einstellung wollte er auch auf seinen Neffen übertragen. Der Versuch gelang, Walters Gesichtsausdruck nach zu urteilen, jedoch nur mäßig.
Walter Frankenstein interessierte sich weniger für das Militär, sondern mehr für allerhand Fortbewegungsmittel. Zu Ostern 1931 bekam er einen Roller geschenkt, der seine Abenteuerlust jedoch nur teilweise stillen konnte. Um seine Chancen auf einen Flug mit einer Junkers zu erhöhen, »verlobte« er sich noch im gleichen Jahr mit seiner christlichen Freundin Ingeborg Abraham, deren Vater Postflieger war. Der Flug kam jedoch nie zustande, da Ingeborg kurz darauf mit ihren Eltern fortzog.
Ab 1933 begannen sich die in Flatow verbliebenen christlichen Freunde zunehmend von Walter zurückzuziehen. Im Jahr 1934 emigrierte Walters Bruder Martin Frankenstein nach Palästina – eine weitere frühe Folge der Machtübernahme der Nationalsozialisten.
Martin hatte in Bischofsburg in Ostpreußen, der Heimatstadt seines Vaters, eine kaufmännische Ausbildung in dem Bekleidungs- und Konfektionsgeschäft der Familie absolviert und arbeitete nach seinem Umzug nach Rischon leZion in Palästina als Postbote. Das Erinnerungsfoto, das einen Tag vor seiner Abreise entstand, zeigt auch Walters und Martins Bruder Manfred, der ihm 1937 nach Palästina folgte. Sowohl Martin als auch Manfred wurden von ihrem kinderlosen Onkel Selmar enterbt. Er betrachtete die Emigration nach Palästina als Verrat am Vaterland.
Walter hingegen blieb in Deutschland und erlebte so die zunehmenden Repressalien der nationalsozialistischen Regierung gegen Jüdinnen*Juden. Bereits am 1. April 1933, als zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen worden war, hatten Unbekannte auf die Fenster des Ladengeschäfts der Frankensteins geschossen, das Martha Frankensein seit dem Tod ihres Mannes 1929 alleine führte.
Walter sagte in dieser Nacht zu sich: »Lieber Gott, wenn dieser Mann nicht auf den nächsten 50 Metern tot umfällt, dann glaube ich nicht mehr an Dich.« Heute resümiert er: »Er ist nicht umgefallen, und ich war Atheist. Ich bin es bis heute geblieben.«
Trotz dieses einschneidenden Erlebnisses führte Walters Mutter das Ladengeschäft zunächst weiter. Es ist auf dem letzten hier zu sehenden Foto abgebildet, auf dem Walter und Martha Frankensein im Ladeneingang stehen. Das Bild ist zugleich die letzte erhaltene Aufnahme Walters in seiner Geburtsstadt. Kurz darauf, im Sommer 1936, wurde dem zwölfjährigen Walter verboten, weiterhin die christliche Schule in Flatow zu besuchen. Er musste nach Berlin in das Auerbach´sche Waisenhaus umziehen, womit das nächste Kapitel in seinem Leben den Anfang nahm.
Anna Rosemann ist auch nach einem Jahr der intensiven Auseinandersetzung mit der Schenkung noch tief beeindruckt von Walter Frankensteins Biografie.
Weitere Fotografien aus dem Leben der Familie Frankenstein finden Sie in unseren Online-Sammlungen.
Wenn Sie tiefer in die Geschichte von Walter und Leonie eintauchen möchten, empfiehlt sich das Buch Nicht mit uns – Das Leben von Walter und Leonie Frankenstein von Klaus Hillenbrand, das 2008 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienen ist.