Vierte Episode unserer Blogserie »Erinnerungen aus dem Leben Walter Frankensteins«
Wie sollte es jetzt weitergehen? Nichts vom alten Leben der Frankensteins war übrig geblieben. Verwandte und Freunde, darunter auch Walters und Leonies Mütter, waren ermordet worden. Ganz Europa lag in Trümmern.
Ein schlichter Verwaltungsakt war der erste Schritt der Frankensteins ins neue Leben: Walter und Leonie meldeten sich bei der Jüdischen Gemeinde Berlin. Dort wies man ihnen eine Wohnung zu, riet ihnen jedoch aufgrund der schlechten Versorgungslage, Berlin schnellstmöglich zu verlassen. Nichtsdestotrotz entschieden sich die Frankensteins, den Sommer in Berlin zu verbringen. Walter engagierte sich als ehrenamtlicher Leiter bei den Neuköllner Freizeitspielen. Gleichzeitig nahm er Kontakt zur Jüdischen Brigade auf. Die britische Mandatsregierung hatte im Zuge des Krieges die legalen Einreisemöglichkeiten nach Palästina stark reduziert. Dadurch war für die rund 250.000 Displaced Persons (kurz: DP) in den Lagern in Westeuropa die illegale Einreise häufig die einzige Möglichkeit nach Palästina zu gelangen. Walter schaffte es, über die Mitglieder der Jüdischen Brigade eine Möglichkeit zur legalen Emigration für Leonie und die Kinder auszuhandeln. Im Gegenzug verpflichtete er sich, für die Brigade junge Jüdinnen*Juden durch Deutschland in Richtung Süden zu schleusen. Ziel waren die Häfen am Mittelmeer, wo jüdische Untergrundorganisationen Schiffe zur illegalen Einreise nach Palästina vorbereiteten.
Mitte November 1945 verließ Leonie mit ihren beiden Söhnen Berlin in Richtung Palästina. Walter wurde vier Wochen später von der Jüdischen Brigade über München und das DP-Lager Landsberg nach Greifenberg am Ammersee geschickt. Dort war in einer ehemaligen BDM-Gauführerinnenschule eine Art Kibbuz errichtet worden. Junge Männer und Frauen, die das Konzentrationslager überlebt hatten sowie Partisan*innen, sollten in der Gemeinschaft psychisch wieder aufgebaut und auf die Emigration vorbereitet werden. Anhand eines Gruppenbildes der Bewohner*innen lässt sich das Leitbild des Kibbuz nachvollziehen. Das Zitat auf dem Banner, unter dem die Männer und Frauen posieren, stammt aus einem Lied von Pooa Grinshpon und bedeutet übersetzt: »Solange noch das Herz Israels [gemeint ist das Volk Israel] [irgendwo]auf der Welt schlägt – Das Land Israel!«.
Deutlich zeigt sich, wie ausgeprägt die Solidarität mit der zionistischen Bewegung, der Wille zur Emigration nach Palästina und die Bereitschaft zur Gründung eines Staates Israel bei den Bewohner*innen zu diesem Zeitpunkt waren. Walter, der im Kibbuz Jiu-Jitsu unterrichtete, die Küche leitete und den Personenschmuggel über die Grenze organisierte, war keine Ausnahme. Auf einem Porträt aus seiner Zeit in Greifenberg posiert er mit einer Jacke, auf der das Abzeichen der Jüdischen Brigade zu sehen ist.
Obwohl man Walter zugesichert hatte, Leonie und den Kindern innerhalb von sechs Wochen nach Palästina folgen zu können, waren inzwischen Monate vergangen. Im Mai 1946 reiste er endlich nach La Ciotat in der Nähe von Marseille. Auf dem illegalen Einwandererschiff »Latrun« sollte er für die Versorgung der Passagiere mit Lebensmitteln und Wasser sorgen. Die »Latrun« legte am 19. Oktober 1946 in Richtung Haifa ab, wobei sich ca. 1.248 Menschen an Bord des ursprünglich für 75 Passagiere ausgelegten Schiffes befanden. Nach eigenen Angaben rauchte Walter während der Überfahrt 140 Zigaretten täglich und schlief sieben Tage lang kaum. 140 Zigaretten, eine Zahl, die – selbst wenn sie nicht genau stimmen sollte – symbolisch für die extreme Situation stehen kann, unter der die Menschen die illegale Emigration nach Palästina wagten. Sie hatten vor allem ein Ziel: weg aus Europa.
Den Passagieren der »Latrun« gelang es nicht auf Anhieb, Europa den Rücken zu kehren: Nachdem das Schiff auf der Höhe von Zypern die israelische Flagge gehisst hatte, wurde es von den Briten bei der Einfahrt in palästinensische Gewässer geentert und danach in den Hafen von Haifa geleitet. Statt jedoch an Land zu gehen, mussten sich die Passagiere auf zwei britische Kreuzer verteilen, die sie in ein Internierungslager auf Zypern brachten.Walter begann wieder, für eine Gruppe von 20 Personen zu kochen und bemühte sich darüber hinaus, die Freizeit der Männer und Frauen so angenehm wie möglich zu gestalten.
Im Mai oder Juni 1947 wurde Walter schließlich in das Transitlager Atlit in Palästina verlegt. Durch den auf dem Foto abgebildeten Stacheldrahtzaun sah er nach ca. 19 Monaten der Trennung zum ersten Mal seine Familie wieder. Nach einem kurzen Aufenthalt im Lager Kiryat Shmuel wurde Walter im August/September 1947 entlassen. Endlich konnte er damit beginnen, gemeinsam mit Leonie ein Leben in Palästina aufzubauen…
Anna Rosemann empfiehlt unsere Veranstaltungsreihe »Zeitzeug*innen im Gespräch«, bei der am 31. Januar 2018 Walter Frankenstein zu Gast sein wird.
Weitere Fotografien aus dem Leben der Familie Frankenstein finden Sie in unseren Online-Sammlungen.
Wenn Sie tiefer in Walter und Leonie Frankensteins Biografie eintauchen möchten, empfiehlt sich das Buch Nicht mit uns – Das Leben von Walter und Leonie Frankenstein von Klaus Hillenbrand, das 2008 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschienen ist.