Interview mit Dalia Castel und Orit Nahmias
Dalia Castel ist Filmemacherin, Orit Nahmias Schauspielerin am Berliner Maxim Gorki Theater. Beide sind in Jerusalem aufgewachsen – und seit ihrer Kindheit befreundet. Ihre Wege kreuzten sich immer wieder. Heute leben Dalia und Orit in Berlin. Auf die Frage, warum sie einen Film über die Stadt ihrer Kindheit gemacht haben, fallen sie sich gegenseitig ins Wort: »Wir hatten Fragen …«, beginnt Orit zu erklären, »…zu Jerusalem«, ergänzt Dalia. Aus diesen Fragen ist ein sehr persönlicher Dokumentarfilm geworden: Jerusalem for Cowards (2011). Am 19. Februar wird er im Jüdischen Museum Berlin gezeigt, im Anschluss findet ein Gespräch mit den beiden Filmemacherinnen statt.
Nina Breher: Jerusalem for Cowards ist ein Dokumentarfilm über einen gemeinsamen Besuch der Stadt, in der ihr aufgewachsen seid. Ihr konfrontiert euch mit den Veränderungen, die sie seit eurer Kindheit durchlaufen hat. Was für Gefühle hegt ihr heute – sechs Jahre nach dem Film – gegenüber Jerusalem?
Dalia Castel: Ich empfinde mehr Gleichgültigkeit als damals. Ich hätte nicht erwartet, dass Jerusalem for Cowards einen so großen Einfluss auf mich haben würde. Aber als wir den Film letztens nochmal angeschaut haben, fragte ich Orit: »Warum müssen wir eigentlich überhaupt irgendwo dazugehören?«
Orit Nahmias: Ich fragte zurück: »Gehörst du hier dazu, in Deutschland?« Dalia antwortete: »Nein, ich habe einfach nicht mehr das Bedürfnis, irgendwo dazuzugehören.« Für mich hingegen sind Besuche dort schmerzhaft. Jerusalem ist wie ein Ex-Freund. Man war so verliebt ineinander, aber wenn man sich nach einiger Zeit wiedertrifft, ist nichts mehr von alldem übrig. Und das, obwohl du weißt, wie viel ihr miteinander erlebt habt. Das ist sehr emotional und tut weh. Der Film handelt von dem Wunsch und dem Bedürfnis, sich zugehörig zu fühlen – und davon, zu verstehen, wo man nicht dazugehört. Ich war beeindruckt, als Dalia mir kürzlich erzählte, dass sie ihren Wunsch nach Zugehörigkeit aufgegeben hat. Seit wir Jerusalem for Cowards gedreht haben, haben wir uns von unseren nostalgischen Gefühlen für Jerusalem freigemacht. Heute denke ich, dass man eher zu seiner Familie und zu seinen Freunden gehört.
Dalia: Ich habe zwei Kinder. Sie sprechen auch Hebräisch, aber sie sind deutsch – schließlich wachsen sie hier in Berlin auf. Wenn ich versuche, ihnen von meiner Kindheit zu erzählen, können sie Vieles nicht nachvollziehen. Kann man Erinnerungen teilen, wenn es den Ort, von dem sie herrühren, nicht mehr gibt? Das ist eine Frage, die mich beschäftigt.
Nina: Orit, deine Familie lebt seit etwa acht Generationen in Jerusalem. Warum hast du dich dort nicht zugehörig gefühlt?
Orit: Wegen der Religiösen – der orthodoxen Jüdinnen und Juden: Du fährst mit dem Bus und ein Mann steht auf und hält sich die Hände vor die Augen. Und für Palästinenser*innen waren wir das Schlimmste – obwohl wir aus linksliberalen Familien mit guten Kontakten zu Palästinenser*innen kommen. Man will uns dort nicht haben, und wenn du wo nicht willkommen bist, ziehst du dich automatisch zurück.
Dalia: Niemand möchte an einem Ort sein, an dem sie*er nicht willkommen ist. In Jerusalem ist es so: wir mit unseren politischen Überzeugungen gegen die, die ›Gott auf ihrer Seite haben‹. Ich hatte nicht nur das Gefühl, nicht dazuzugehören, sondern ich war auch einfach unerwünscht.
Orit: Vor und während wir gedreht haben, befand sich Dalia in einem unbewussten Prozess. Den Film zu machen war ein Teil dieses Prozesses. Wenn ich sie heute frage, ob sie sich in Deutschland zugehörig fühlt, sagt sie: »Nein, aber das ist in Ordnung!«
Dalia: Ja, weil hier nicht von mir erwartet wird, dass ich mich zugehörig fühle. (lacht)
Orit: Das ist, wie wenn man die Familie von Freunden besucht: Da ist es normal, sich nicht zugehörig zu fühlen. Aber im eigenen Zuhause nicht dazuzugehören – das tut weh. Das ist echt schmerzhaft. Genau deshalb sind wir jetzt hier in Berlin und tun das, was wir tun. Wir wollen Vielfalt, aber zugleich wollen wir Menschen um uns haben, die uns ähnlich sind. – Mir fällt eben auf, dass das eine problematische Einstellung ist. Aber ich möchte liberale Menschen um mich haben, die akzeptieren können, dass Menschen unterschiedlich sind. Und ich wünsche mir ein künstlerisches Umfeld.
Nina: War euch immer klar, dass ihr Jerusalem irgendwann verlassen würdet?
Dalia: Nein. Als wir dort lebten, wollte keine von uns weg. Wir waren sehr patriotisch.
Orit: Uns wurde vermittelt, dass es etwas Besonderes ist und wie viel Glück wir haben, in einer so interessanten Stadt zu leben. Und wir haben das verinnerlicht! Aber es ist eben wie mit dem Ex – erst wenn es vorbei ist, fragst du dich: Was für eine Beziehung war das denn?! Du hast vorher einfach nicht mitgeschnitten, wie schlecht der Sex war, weil der Blick von außen fehlte.
Nina: Jerusalem ist ein Touristenmagnet. In eurem Film wirkt die Heilige Stadt aber schmutzig – alles sieht so profan aus, fast banal. Wie kommt es, dass eure Darstellung der Stadt sich so sehr von dem unterscheidet, was Touristen erwarten oder sogar zu Gesicht bekommen?
Dalia: Wir wollten unser Jerusalem zeigen.
Orit: Für Dalia war von Anfang an klar, dass sie einen Film machen möchte, der nicht in das offizielle Image von Jerusalem passt. Wir wollten keine Bilder von der Altstadt machen. Das ist ein politisches Image. Tatsächlich sind in Jerusalem das Heilige und das Profane, das Hohe und das Niedrige ziemlich notdürftig zusammengeflickt.
Dalia: Es ist dort wirklich hässlich!
Orit: Aber wenn Dalia ein Foto von etwas Hässlichem macht, verwandelt es sich in Poesie. Sie zeigt das Hässliche auf eine sehr poetische Art.
Nina: Am Ende des Films besucht ihr das Haus, in dem Dalia die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbracht hat. Es befindet sich in einem Viertel, das säkular und liberal war, dann aber sehr religiös wurde. Heute befindet sich in Dalias ehemaligem Wohnhaus eine Jeschiwa (Gebetsschule). Ihr hattet von Anfang an vor, dem Haus einen Besuch abzustatten. Warum hast du ihn bis zum letzten Moment herausgeschoben, Dalia?
Dalia: Ich weiß es nicht genau. Der anstehende Besuch hat mich sehr gestresst! Kurz bevor wir damals weggezogen sind, hatten wir Kinder Angst, wenn wir aus der Schule kamen. Die Reifen unseres Autos wurden mal aufgeschlitzt. Ich hatte Angst, wieder an diesen Ort zurückzugehen.
Orit: Und uns wurde beigebracht, religiösen Lebensentwürfen mit viel Respekt zu begegnen. Aber dass eine säkulare Haltung genauso ein Lebensentwurf ist, hat uns keine*r gesagt. Für mich sind eben Gedankenfreiheit und Kultur heilig. Uns wurde nicht beigebracht, dass Respekt vor Lebensentwürfen auch heißt, dass wir für die Freiheit kämpfen müssen. Wenn es zwei Blöcke gibt, und einer davon ist bereit, die Stadt in Brand zu setzen… dann bin ich raus und gehe weg. Ich werde nichts abbrennen! Aber allein kann man nicht viel ausrichten. Ich mache das Wenige, das ich tun kann. Manchmal kann ich auf der Bühne ein Argument anbringen.
Nina: Würdet ihr sagen, dass in Jerusalem religiöse Lebensentwürfe höher bewertet werden als säkulare?
Dalia: Absolut.
Orit: »Entschuldigung, dass wir hier sind« ist ein sehr präsentes Gefühl für uns. Als wir zu Dalias altem Haus gegangen sind, war das bewegend. Es ist wie mit dem Ex: Du gehst zu dem Haus, in dem du geboren wurdest, aber bist so entfremdet. Es ist bekannt, und zugleich ist es die totale Fremde. Du bist entfremdet. Und das ist ein trauriges Gefühl.
Nina: Besucht ihr Jerusalem noch manchmal?
Dalia: Ich würde schon hinfahren – aber es gibt dort niemanden mehr, den ich besuchen könnte.
Orit: Abgesehen von meinen Eltern, die ich manchmal besuche, kenne ich niemanden, der noch dort lebt. Die Menschen, mit denen wir früher zu tun hatten, sind alle nicht mehr dort – und das spricht für sich.
Die Fragen stellte Nina Breher, die als Ruhrpott-Export mit ihrer ganz eigenen Expertise zum Poetischen im Hässlichen aufwarten kann. Ausschließlich schön findet Nina die Art und Weise, wie sich bei Dalia und Orit Freundschaft und Kunstwerk gegenseitig beflügeln.
lovely blog