27. Mai 1934 – 6. April 2018
Das Jüdische Museum Berlin trauert um Reinhard Rürup. Er starb am Freitag im Alter von 83 Jahren. Obgleich der Name des Historikers vor allem mit der Berliner Stiftung »Topographie des Terrors« verbunden ist, verdankt ihm das Jüdische Museum Berlin viel.
Schon 1989 gehörte er als Sachverständiger dem Preisgericht des Architektenwettbewerbs für den Libeskind-Bau an. Zehn Jahre später war er Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der 2001 eröffneten Dauerausstellung. Nicht zuletzt zählte er zu den wenigen, die sich schon sehr früh für die Gründung eines selbstständigen jüdischen Museums in der Trägerschaft des Bundes einsetzten.
Unvergessen bleibt den damals Anwesenden sein Vortrag beim Festakt anlässlich der Grundsteinlegung des Libeskind-Baus im Kammermusiksaal der Philharmonie am 9. November 1992. Kaum ans Pult getreten, zog er die beiden Karten hervor, die ihm für diese Veranstaltung zugeschickt worden waren. Mit Verwunderung habe er festgestellt, dass die beiden einladenden Senatsverwaltungen unterschiedliche Bezeichnungen für das Bauprojekt benutzten.
Seine wie immer akribische Lektüre hatte Reinhard Rürup in den Kern dieses lange schon schwelenden Konflikts um den Status des geplanten »Museums im Museum« geführt. Und er war der erste, der ihn öffentlich ansprach. So begann er seinen Festvortrag mit kritischen Bemerkungen, mit Zweifeln an der Praktikabilität dieser Konstruktion und dem Hinweis, dass der Bau in der Öffentlichkeit bereits als »das neue Jüdische Museum« verstanden wird.
Fünf Jahre später sah er seine Warnungen von der weiteren Eskalation des Konflikts bestätigt. Vor dem Ausschuss für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Abgeordnetenhauses forderte er nunmehr ein selbstständiges Museum im Libeskind-Bau und das Engagement des Bundes für diese neu zu gründende Institution. Dass auch die weitere Entwicklung ihm recht geben sollte, hatte er im Oktober 1997 vermutlich nicht erwartet.
Doch unabhängig von ihrem Ausgang führt uns diese Episode die wesentlichen Charakterzüge Reinhard Rürups vor Augen: Genaue Lektüre und hellsichtige Analyse, präzise Formulierungen, gut begründete Kritik, die er stets höflich und manchmal mit leichter Ironie vortrug; das Verständnis für die Öffentlichkeit als Adressatin von Geschichtsdarstellungen und schließlich der Mut, auch unpopuläre Positionen zu vertreten und ihnen treu zu bleiben.
Geschichtswissenschaft fand für ihn stets im und für den Resonanzraum der Civil Society statt. Der Demokratie und dem Verfassungsstaat gab sie die notwendige historische Dimension. Die Beschäftigung mit Geschichte war für ihn stets eine politische und gesellschaftliche Aufgabe und sollte dazu herausfordern, in der Gegenwart politische Verantwortung zu übernehmen. Dieses Selbstverständnis als Public Historian geht weit über das hinaus, was gemeinhin unter dem Begriff Vermittlung gefasst wird, wiewohl es diesen Aspekt durchaus enthält.
Für Reinhard Rürup stand es außer Frage, dass auch alle populären Formen den neuesten Stand der Forschung wiedergeben müssen. Dabei beruhten die von ihm betreuten Ausstellungen auf intensiven Recherchen und waren selbst Beiträge zur Forschung. Nie hat er um der Popularität willen Zugeständnisse an die wissenschaftliche Qualität gemacht. Und bei aller sprachlichen Klarheit und Verständlichkeit ersparte er seinem Publikum keine unbequemen Einsichten.
Sein Engagement für Ausstellungen und Museen begann zu Beginn der 1980er Jahre, als sich in einer breiten Bewegung der »Geschichte von unten« das Interesse auf nicht-schriftliche Quellen und Darstellungsformen, auf authentische Orte, Gebäude, Objekte, Bilder und Erzählungen, und damit auf Ausstellungen und Museen richtete.
Dass in den großen Ausstellungen zur Geschichte Preußens 1981 und zur Geschichte Berlins 1987 die Geschichte der Jüdinnen*Juden berücksichtigt wurde, ist wesentlich ihm zu danken. 1995 widmete er der jüdischen Geschichte Berlins schließlich eine eigenständige Ausstellung in der neu eröffneten Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum.
Seine Beschäftigung mit der Geschichte der Jüdinnen*Juden begann jedoch schon in den 1960er Jahren. Er gehörte damit zu denjenigen, die dieses Forschungsfeld in der Bundesrepublik wieder etabliert haben. Am Beispiel der Debatten um die Emanzipation der Jüdinnen*Juden in Baden formulierte er eine bis heute gültige Deutung der Ambivalenzen dieses Prozesses und der ihn tragenden politischen Ideen des Liberalismus.
Dass die Geschichte der Jüdinnen*Juden in Deutschland nicht geschrieben und gezeigt werden kann, ohne das Bewusstsein der Katastrophe ihres Endes, gehörte zu seinen Grundüberzeugungen. Ebenso jedoch, dass die Geschichte nicht zwangsläufig in dieser Katastrophe hätte enden müssen, sondern bis 1933 prinzipiell offen und gestaltbar war. Die freiheitlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und pluralistischen Traditionen, zu denen er ebenfalls geforscht hatte, bildeten die positiven Bezugspunkte. In dieser Konstellation interpretierte er die Geschichte der Jüdinnen*Juden in Deutschland als eine der Chancen und Erfolge, ohne die Gegenkräfte und Rückschläge zu leugnen. Als eine in Europa einzigartige Entwicklung stand sie für ihn paradigmatisch für die Fragen einer pluralistischen Gesellschaft im Zeitalter der Moderne.
Von denjenigen, die in den letzten Jahrzehnten begannen, sich mit jüdischer Geschichte zu beschäftigen, sind viele durch seine »Schule« gegangen, ohne dass er dabei eine »Schule« im akademisch paternalistischen Sinne hätte bilden wollen. Seine Ideen, Fragestellungen und sein Ethos werden weitergetragen von einer neuen Generation, die heute an den Universitäten, Gedenkstätten und nicht zuletzt an den jüdischen Museen arbeitet.
Das Jüdische Museum Berlin wird Reinhard Rürup vermissen, für seinen klaren Blick, seinen kritischen Rat und den besonderen Ton, mit dem er ihn vortrug.