2400 Meter über dem Meeresspiegel, tief in den Rocky Mountains von Colorado, ist das Aspen Music Festival im vollem Gang. Acht Wochen lang machen 600 Studentinnen und Studenten aus aller Welt buchstäblich rund um die Uhr Musik: in Konzertsälen, in Zelten, in Kirchen; ein Bläserquintett hat sich, wie gewohnt, am Nachmittag zwischen den festgelegten Darbietungen an der Straßenecke vor der Eisdiele aufgebaut, und in der Aspen Chapel, die einem Kirchlein aus dem 12. Jahrhundert nachempfunden ist, beglückt uns der sehr hübsche, sehr junge Eylon Ben-Yaakov erst mit Chopins Polonaise in As-Dur, dann mit Prokofjews Klaviersonate Nr. 3.
In ihrer großen Mehrzahl sind die Studenten Asiaten, und man fühlt sich an einen Witz aus den 1980er Jahren erinnert, als hunderttausend russische Juden aus der damaligen Sowjetunion nach Israel ausreisen durften und von Alma Ata bis Petrosibirsk ganze Orchester entvölkerten: Wie nennt man einen russischen Einwanderer, der ohne Geige in Tel Aviv ankommt? Antwort: Pianist. Dasselbe gilt hier für die Chinesen.
Während es damals schwierig war und vielleicht heute noch ist, den ganz eigenen Klang der israelischen Philharmonieorchester bei all den russischen Musikern auszumachen – wer kann dem Programm entnehmen, ob der erste Geiger Aaron Bronstein ein Neuzugang ist oder in Israel geboren und groß geworden? Die chinesischen Musiker sind natürlich leicht zu erkennen, gemeinhin finden sie sich in den vorderen Reihen bei den Streichern. Sie zeigen unbedingte Konzentration und steife Haltung, halten jede Gefühlsregung Schach, und nur wenn das Publikum aufspringt und frenetisch applaudiert, erlauben sie sich ein strahlendes Lächeln.
Israelische Musiker sind im Programm durchaus auch präsent. Gil und Orli Shahan sind mit ihren Eltern, beide Physiker, regelmäßig nach Aspen gekommen, seit sie drei und fünf Jahre alt waren und die Eltern am Aspen Center for Physics lasen; dorthin pflegten Hunderte von Naturwissenschaftlern zu pilgern, unter ihnen 65 Nobelpreisträger, und ein Minjan ließ sich versammeln, ehe jemand »oj, gewalt!« rufen konnte.
In diesem Jahr, zum 50. Jubiläum des Aspen Center for Physics, spielten Orli und Gil Shahan vor ausverkauftem Haus Brahms und Mendelssohn, und ein weiterer junger und attraktiver israelischer Pianist, der gefeierte Inon Barnatan, betörte das Publikum im Bendedict Music Tent mit seiner kraftvollen Interpretation von Ravels »La Valse«.
Vor ein paar Jahren initiierte der Dirigent James Conlon hier ein Mini-Festival unter dem Titel »Forbidden Music: Silenced Voices«, zu Ehren europäischer Komponisten, deren Leben und Schaffen in den 1930er und 40er Jahren von den Nationalsozialisten unterdrückt wurde. So gelangten unter anderem große Arbeiten von Zemlinsky und Erwin Schulhoff, von Viktor Ullmann und Carl Frühling zur Aufführung – fast alles Namen, die heute vergessen sind. Wären ihre Leben nicht vom »Dritten Reich« ausgelöscht worden, wer weiß, wie die Musik des 20. Jahrhunderts geklungen hätte?
Von unserer Korrespondentin Emily Vogl