ein immerwährendes Gespräch
Es gibt Menschen, die die Ausstellung »Die ganze Wahrheit« nicht nur ein oder zweimal, sondern ein paar Dutzendmal besuchen: wir Guides, die unsere Besucher durch die Ausstellung begleiten. Diesmal haben wir nicht die Aufgabe, die Exponate und ihren Hintersinn vorzustellen, sondern dem Publikum, der sehr konkreten Öffentlichkeit, Stellungnahmen zu entlocken und die entstehende Diskussion zu moderieren. Schließlich kommen die Fragen, an denen sich die Ausstellung entwickelt, ebenfalls von Besuchern. Das Museum spiegelt sie an einer Vielzahl von Objekten, die die Kuratorinnen dazu ausgesucht haben.
Die Exponate sind sehr verschieden und durchweg überraschend – der Tonfall, den sie anschlagen, variiert. So reagieren die meisten Besucher zunächst verblüfft und sprachlos vor der Chuzpe einiger Arrangements. Doch sobald man sich als Gruppe durch die Ausstellung bewegt und es mit seiner Begleitung zu tun bekommt, ergänzen sich die verschiedenen Sprachlosigkeiten beredt. Wie sonst auch werden vor einem Exponat häufig einander widersprechende Meinungen dazu geäußert. Aber während man üblicherweise meint, die eine wäre wahr und die andere etwas weniger, so merkt man hier, dass es diesmal im Museum gar nicht vor allem um das Objekt und seine historische Botschaft geht, sondern um das Sprechen darüber, genauer: das Verhalten dazu, die Stellungnahme.
Und so zirkulieren in der Ausstellung auch viele Klischees und Vorurteile über das Judentum: aber eben nicht nur so, dass diese entlarvend vorgeführt werden. In fünf Kästen kann man selbst zu Vorurteilen abstimmen – es wäre vermutlich selber eines, das nur als böswilligen Spiegel wahrzunehmen. Vielmehr zeigen die ganz verschiedenen, oft widersprüchlichen Reaktionen der Besucher, dass es in dieser Ausstellung nicht das richtige und das falsche Verhalten angesichts von Klischees gibt. Vielmehr geht es erst einmal darum, offen über sie zu sprechen. Und gelegentlich darüber zu lachen.
Was für treffende und doch unterschiedliche Reaktionen auf die Ausstellung möglich sind, wird dann selbst für die schweigsamen Zeitgenossen noch einmal am Ende des Rundgangs sichtbar. Aus einzelnen Zetteln, Post-its, die das sonst übliche Besucherbuch ersetzen, ist eine ganze Wand, eine eindrucksvolle Installation geworden: Die Berliner Öffentlichkeit hat die Ausstellung um ihren eigenen Beitrag ergänzt. Da liest man nicht nur launige Kommentare, sondern auch verblüfft, wie frei und phantasievoll die einen die Meinungen der anderen ergänzen, fortschreiben, karikieren, erweitern. Und für einen glücklichen Augenblick geht dem Betrachter auf, dass »die ganze Wahrheit« mehr als eine ironische Floskel ist, dass es sie tatsächlich geben könnte: als ein fortlaufendes, einladendes, unabschließbares Gespräch, in das Menschen und Dinge für die Zeit ihrer hier versammelten Gegenwart eintreten. Deswegen: nichts wie hin!
Marc Wrasse, Guide
Ich verstehe nicht, warum sich das Museum offensichtlich dazu entschieden hat, eine sehr deutliche Reaktion des Publikums auf die Installation (siehe Abbildung) zu unterbinden. In den ersten Wochen der Ausstellung wurden die Chips, die man den verschiedenen Vorurteilen zuzuordnen aufgefordert wurde, beim Betreten der Ausstellung ausgeteilt. Viele Besucher kommentierten die Installation, indem sie die Chips neben die Automaten auf den Boden legten. Sie boykottierten so die Aufforderung, sich zwischen verschiedenen Vorurteilen zu entscheiden. In einer nicht-organisierten, aber unmittelbar einleuchtenden Besucheraktion wuchs so ein Haufen von Chips neben den zur Abstimmung gestellten Vorurteilen. Die Ausstellungsmacher änderten daraufhin das Prozedere: Nun wurden die Chips, mit denen man abstimmen konnte, an genau der Stelle platziert, an der vorher der Haufen entstanden war. Die vorher beschriebene Form der Partizipation des Besuchers an der Aussage der Installation war nun nicht mehr möglich.