Im Januar 2013 jährt sich in Deutschland zum achtzigsten Mal der Tag der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, und das Interesse am Dritten Reich ist unverändert groß: So auch bei dem 34-jährigen Laurent Binet, Preisträger des begehrten Prix Goncourt, der in seinem Buch HHhH die Geschichte der Operation Anthropoid untersucht, des Attentats auf Reinhard Heydrich, Obergruppenführer, Stellvertretender Reichsprotektor von Böhmen und Mähren und Leiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo). (HHhH steht für “Himmlers Hirn heißt Heydrich”, die in Nazikreisen kursierende Kurzformel für Heydrichs Rolle.)
Binets Darstellung liest sich wie ein packender Doku-Thriller. Der Autor weiht seine Leser in sämtliche Details der Planung und Durchführung des Attentats ein, die er mit Hilfe historischer Dokumente aus Berlin und Prag sowie von Widerstandskämpfern aus der Tschechoslowakei und London rekonstruiert. Dabei werden die Ereignisse aus einer gegenwärtigen Perspektive dargestellt: Das Buch folgt in seinen 257 Kapiteln chronologisch dem Arbeitsprozess des Verfassers statt dem Ablauf der Verschwörung, weshalb das Kapitel über die mehrstündige Schlacht in der Krypta der Kirche, in der sich die Attentäter versteckt hielten, das Datum 27 Mai 2008 bis 18 Juni 2008 trägt. Tatsächlich liest sich Binets historischer Roman eher wie ein Tagebuch oder ein Blog und beinhaltet entsprechende Selbstreflexionen. Der Autor überlegt beispielsweise, ob die »beinahe uneingeschränkte[n] Freiheiten« des Autors nicht womöglich unvereinbar sind mit wissenschaflicher Genauigkeit: »eine Figur zu erfinden, […] ist, wie Beweise zu fälschen« (Kapitel 112 bzw. 192). Indem Binet auf seine fiktionalen Ausschmückungen hinweist, experimentiert er mit der literarischen Gattung des historischen Romans, der ihm im Informationszeitalter anachronistisch erscheint.
Mit Binets Modernisierung des historischen Romans geht auch eine Popularisierung seines Schreibprozesses einher. Wissenschaftliche Forschung verwandelt sich in Detektivarbeit, wie wir sie aus Film und Fernsehen kennen. Der Autor versetzt sich in seine Charaktere, folgt ihren Spuren durch verschiedene Städte, schläft zu wenig, raucht zu viel und leidet arbeitsbedingt an Anfällen von Depression. Binets Erzähler wirkt nicht wie ein Historiker, eher wie ein Actionheld, ein moderner James Bond, zu dessen Arbeit auch leidenschaftliche Affären mit schönen Frauen gehören.
Doch trotz allem glamour geht es dem erzählenden Historiker hier um mehr als die für Laien nachvollziehbare Darstellung wissenschaftlichen Arbeitens. Er reiht sich ein in den Kreis der Künstler, die sich an das Überthema Nationalsozialismus gewagt haben. Binet nennt seine Vorgänger und Meister: Fritz Lang, Bertolt Brecht, Eric Rohmer, Kenneth Branagh, Quentin Tarantino, Éric-Emmanuel Schmitt und Bernd Eichinger, aber auch Jonathan Littell, der 2006 den Prix Goncourt für Die Wohlgesinnten gewann und über dessen Werk Binet meint, es sei nichts anderes als “Houllebecq macht Nationalsozialismus” (Kapitel 204), womit er darauf anspielt, dass die Gewichtigkeit des Themas Novizen und andere Nachahmer anzieht. Binets Erzähler ist geradezu besessen von der Frage, wie sein Buch aufgenommen wird, und debatiert, ja verstärkt dabei den Anspruch Werken über den Nationalsozialismus auf künstlerische Hochleistung, als wären sie das Äquivalent zur Historienmalerei des 17. Jahrhunderts oder zur griechischen Tragödie. Angesichts der in den vergangenen 80 Jahren produzierten Filme und Romane mag der Autor Recht haben.
Naomi Lubrich, Medien