»on.tour« im Gefängnis
Kaum war ich dieses Jahr aus dem Sommerurlaub zurückgekehrt, ging es für mich direkt in den »Knast«! (…keine Sorge, mein Führungszeugnis ist nach wie vor ohne jeden Eintrag.) Vielmehr ergab sich mein Gefängnisbesuch im Rahmen der sogenannten »Knastwoche«, in der unsere mobile Bildungsinitiative »on.tour – Das Jüdische Museum Berlin macht Schule« (mehr Informationen zu on.tour) bereits zum wiederholten Mal die Jugendstrafanstalt Plötzensee besuchte sowie zum zweiten Mal die Jugendanstalt Neustrelitz. Das gab mir die Chance, an zwei Tagen Einblicke in den Alltag der Häftlinge zu erlangen. Die Erfahrungen, die ich dabei gemacht habe, waren unglaublich spannend und rückten so manche Vorstellung, die ich vom Gefängnis hatte, zurecht.
Kalt – grau – trist: Wenn man an Gefängnisse denkt, kommen einem nicht sehr einladende Bilder in den Sinn. Umso erstaunter bin ich, als ich die Jugendanstalt Neustrelitz betrete. Das »Luxusgefängnis«, wie es in Insider-Kreisen genannt wird, grenzt unmittelbar an ein Waldstück an. Auf der Anlage selbst gibt es sehr viel Grün: großzügige Rasenflächen, kleine Bäume und einige Blumenbeete, die von den Insassen gepflegt werden. Auf dem Weg zu den einstöckigen Zellenhäusern, die locker über das Gelände verteilt sind, kommt man an mehreren Holzbänken und -tischen vorbei. Sogar einen kleinen Teich mit Fischen gibt es hier. Würde es keinen Stacheldraht auf der Gefängnismauer geben, könnte man das Gelände mit einem Landschulheim verwechseln. In der Jugendstrafanstalt Plötzensee würde einem das nicht passieren, denn der riesige Gebäudekomplex mit seinen wuchtigen Backsteinhäusern und hohen Gefängnismauern liegt mitten in der Stadt und ruft ein Gefühl der Enge hervor.
Sowohl in Neustrelitz als auch in Plötzensee treffen wir die Häftlinge bereits vor dem Eingang der Zellenhäuser. Die Jungs sind zwischen 14 und 23 Jahre alt. Sie tragen weiße Muscleshirts, blaue Pullover und Jogginghosen, dazu schwarze Sportschuhe – keine gestreifte oder orangefarbene Kleidung, wie man es aus manchem Film kennt. Bereitwillig tragen uns die jungen Häftlinge die Ausstellungswürfel mit den integrierten Objektvitrinen in die Workshop-Räume. Was mir in beiden Einrichtungen auffällt, ist der respektvolle Umgang zwischen Gefängnispersonal und Insassen. Ein Gefängniswärter erzählt mir, dass er sich selbst als Erzieher für die Häftlinge sieht und somit eine wichtige Bezugsperson für die Jungs darstellt, die sich zum Großteil noch im Teenager-Alter befinden.
Am ersten Tag beginnt unser on.tour-Guide Arnon Hampe den Vormittag mit einer besonderen Einführungsrunde: Jeder Teilnehmer soll sich aus der Sicht einer anderen Person vorstellen. Arnon beginnt und erzählt von sich aus der Perspektive seines besten Freundes. Als er fertig ist, traut sich zunächst niemand weiterzumachen. Daher bin ich nun an der Reihe. Wie davor Arnon, schlüpfe ich für ein paar Minuten in die Rolle meines besten Freundes. Zugegeben, es kostet etwas Überwindung, jemand anderes zu spielen und dabei gleichzeitig Persönliches von sich zu erzählen. Doch nach einer Weile macht es richtig Spaß. Das Spannende an dieser Methode ist, dass man einen inneren Abstand gewinnt, und somit sich selbst mit einem objektiveren Blick beschreibt.
Nach mir meldet sich zuerst wieder niemand. Daher ermuntere ich meinen Sitznachbarn, sich als Nächstes vorzustellen, und ab da ist der Stein ins Rollen gebracht. Was mich am meisten beeindruckt, ist, wie offen die Jungs aus ihrem Leben erzählen. Sie scheuen nicht davor zurück, uns auch sehr persönlich von ihren Straftaten und den Konsequenzen zu erzählen. »Ich komme nicht gut damit klar, dass er im Knast sitzt und ich mit den Kindern alleine zu Hause bin«, erzählt Mario* in der Rolle seiner Verlobten Jenny*, »ich vermisse ihn.« Mario sitzt für knapp zwei Jahre in Neustrelitz wegen Raubüberfalls und Körperverletzung. Die meisten sind aus ähnlichen Gründen hier. Straftaten, die mit Drogen zu tun haben, gehören ebenso zu den gängigen Delikten. Felix* muss zum Beispiel sieben Monate absitzen, weil er mit Drogen gedealt hat. Während des Workshops am Nachmittag stellt er nüchtern in einem Nebensatz fest: »Im Vergleich zu den anderen Sachen finde ich meine Strafe schon ziemlich hart. Wenn es mir überhaupt etwas bringt hier zu sein, dann, dass ich das Zeug ganz sicher nicht mehr verkaufen werde.«
Nach dem Mittagessen in der Kantine (das Essen schmeckt überraschend gut und ist besser als in so mancher Uni-Mensa) setzt sich die Gruppe mit den Ausstellungswürfeln und verschiedenen jüdischen Objekten auseinander. Als ich eine Mini-Tora vorsichtig auf dem Boden aufrolle, sind die Häftlinge von der Machart und dem Umfang der Schriftrolle fasziniert. Im Laufe des Tages stelle ich fest, dass für mich immer mehr in den Hintergrund tritt, warum die Jungs eigentlich im Gefängnis sitzen. Viele von ihnen machen einen sympathischen Eindruck auf mich und sind sehr an Religion und Kultur interessiert. Das Gleiche erlebe ich am nächsten Tag in der Jugendstrafanstalt Plötzensee. Auch hier sind die Gefangenen überaus wissbegierig. Die Art, wie zum Beispiel Mike*, ein 19-jähriger Gefangener, seine Fragen stellt, deutet auf ein umfangreiches Vorwissen hin. Als ich ihn frage, ob er sich besonders für Religionen interessiere, antwortet er mir, dass er sich öfter Literatur aus der Gefängnisbibliothek zur Thematik ausleihe. Gerade liest er ein Buch über die religionshistorische Beziehung zwischen Judentum und Christentum, das er mir gleich in der Pause zeigt – ich bin sehr beeindruckt.
Nach den zwei Tagen habe ich nicht den geringsten Zweifel, dass den jungen Häftlingen das on.tour-Programm sehr gut gefallen hat und eine wertvolle Abwechslung zu ihrem normalen Alltag bietet. Viele der Jungs bringen in der Abschlussrunde ihre Wertschätzung für den Workshop zum Ausdruck und teilen uns mit, dass sie nach ihrer Entlassung auf jeden Fall das Jüdische Museum Berlin besuchen möchten. Für Issam* kann dieser Zeitpunkt gar nicht schnell genug kommen. Mit einem verschmitzten Lächeln fragt er mich beim Einladen der Ausstellung, ob wir ihn nicht hinten im Bus verstecken und mitnehmen können. Ich lächle zurück, hebe kurz die Schultern und sage ihm, dass das wohl leider nicht geht. Sobald er aber entlassen ist, versichere ich ihm, ist er herzlich eingeladen, uns im Museum zu besuchen.
*Name vom Autor geändert
Für einen Besuch im Gefängnis empfiehlt David Studniberg unbedingt eine Armbanduhr mitzunehmen, da Handys und Smartphones am Eingang abgegeben werden müssen.
P.S. Die Entstehungsgeschichte der »Knastwoche« können Sie in einem früheren Bericht auf unserer Website nachlesen.