Ghettoleben und schöne Schuhe
Als Student der Holocaust Studies an der Universität Haifa hatte ich die Ehre, ein Praktikum im Jüdischen Museum Berlin machen zu können, und zwar in dem Team, das die neue Dauerausstellung erarbeitet. Bevor das Praktikum begann, stieß ich in dem Buch Jewish Responses to Persecution: 1938–1940 (hg. v. Jürgen Matthäus und Alaxandra Garbarini, AltaMira Press, Plymouth 2010) auf ein Zitat von Ende 1938, unmittelbar nach den Novemberpogromen, das die Verzweiflung der deutschen Jüdinnen*Juden, besonders derjenigen in Berlin, deutlich macht:
»In Berlin hat noch ein jüdisches Café geöffnet. Wer sich ein Bild davon machen möchte, wie Selbstmordgefährdete aussehen, sollte in dieses Café gehen. Die Gespräche der Leute dort drehen sich um zwei Themen: wie man an ein Schiffsbillet nach Schanghai kommt oder wie man sich selbst töten kann.«
So kam mir die Frage in den Sinn, ob ich hier am Jüdischen Museum Berlin Informationen zu Schanghai finden könnte, wo etwa 20.000 aschkenasische Jüdinnen*Juden Zuflucht fanden. Als ich in der Sammlung des Museums recherchierte, staunte ich, auf welche Fülle an Materialien ich stieß. Diese Geschichten möchte ich nun gerne mit Ihnen teilen.
Nach den Novemberpogromen flohen über 115.000 Jüdinnen*Juden aus dem Deutschen Reich. Mit nur 20 Kilo erlaubtem Gepäck und 10 Reichsmark Barschaft gingen die meisten dieser Emigrant*innen in die europäischen Nachbarländer, in die USA und nach Palästina. Mindestens 14.000 von ihnen aber gelangten nach Schanghai, damals die einzige Stadt der Welt, die für die Einreise weder Visum noch Pass verlangte. Die verzweifelte Frage, ob Schanghai oder Selbstmord, war dennoch real. Denn selbst in Zeiten so großer Bedrängnis förderte die jüdische Gemeinde in Deutschland die Emigration nach Schanghai nicht, da sie Sorgen hatten, dass die Emigrant*innen dort kein Auskommen finden würden.
Die jüdische Auswanderung nach Schanghai setzte sich bis zum Beginn des Pazifischen Krieges fort, als die Stadt am Tag nach dem Angriff auf Pearl Harbor von Japan erobert wurde. Danach verschlimmerte sich die Lage der Jüdinnen*Juden in Schanghai von Tag zu Tag. Zwischen 1941 und 1945 durften rund 23.000 »staatenlose Juden« nur im »begrenzten Sektor für staatenlose Flüchtlinge« im Bezirk Hongkou wohnen, wo die russische Synagoge Beit Ohel Moshe stand und der auch das »Schanghaier Ghetto« genannt wurde. Wann immer sie den Bezirk verließen oder wieder betraten, mussten sie einen Ghetto-Ausweis vorzeigen, so wie den von Hermann Meyer oben im Bild. Hatten die Jüdinnen*Juden in den von den Nationalsozialist*innen beherrschten Gebieten Europas den Gelben Stern zu tragen, mussten sich die Schanghaier Jüdinnen*Juden außerhalb des Ghettos ein rotes Metallabzeichen mit dem chinesischen Zeichen Tong (»Ausweis«) anheften; sonst bekamen sie Schwierigkeiten mit den japanischen Soldaten und riskierten den Entzug ihres Passierscheins.
Während sich in Europa mit der Farbe Gelb viele negative Assoziationen verbinden, gilt die Farbe Rot in China als Glückssymbol. Im Chinesischen gibt es außerdem das Sprichwort: »Die Runden und Glatten kommen eher davon als die mit Ecken und Kanten.« Die Jüdinnen*Juden in Schanghai jedoch überlebten nicht deshalb, weil sie besonders flexibel und schlau gewesen wären, sondern einfach, weil sie den weniger stark befahrenen Weg gewählt hatten.
Neben den Erinnerungsstücken, die von der Mühsal der jüdischen Flüchtlinge in ihrem Schanghaier Exil zeugen, gibt es in der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin auch Objekte, die für frohe Momente stehen. So zum Beispiel das Paar Damenschuhe auf dem Foto hier neben dem Text. Es wurde ca. 1940 hergestellt, und die Sohle verrät, dass es sich um hochwertige Schuhe »Made in China« handelt. Diese Schuhe müssen damals topmodisch gewesen sein, schließlich waren Millionen chinesischer Frauen gerade erst von der Sitte befreit worden, ihre Füße zum drei Zoll langen »goldenen Lotus« zu binden. Erst seit Neuestem hatten sie die Möglichkeit, solche schönen, modernen Schuhe mit gestickten Blumenapplikationen zu tragen.
Soweit ich weiß, bedeutete Schanghai für viele männliche Juden aus angesehenen Berufen, sei es der Berliner Anwalt oder der Arzt aus Wien, Arbeitslosigkeit. Als Folge der Sprachbarriere wurden viele Männer zwischen Anfang 30 und Ende 40 zu »Hausmännern«, während ihre Frauen, weil sie besser Englisch sprachen und sich anpassungsfähiger zeigten, für den Lebensunterhalt sorgten. Das Leben war für alle schwer, besonders aber für diese hart arbeitenden Frauen. Dass solche schönen Schuhe im Alltag getragen wurden, ist daher sehr unwahrscheinlich – eher zu Festen und anderen besonderen Anlässen. Selbst Jahrzehnte später wirkt dieses Paar Schuhe so gepflegt, dass irgendjemand damit vielleicht wundervolle Erinnerungen verband. Eines jedenfalls ist sicher: Selbst in den schwersten, dunkelsten Zeiten können wir noch tanzen.
Wei Zhang glaubt, dass die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge in Schanghai heute immer noch bedeutsam ist, denn sie erinnert uns an den Fehler der westlichen Welt, die sich weigerte, mehr jüdische Einwander*innen aufzunehmen, als ihre winzigen Kontingente zuließen. Auf diese Weise zerfiel die Welt in zwei Teile: die Orte, an denen Jüdinnen*Juden nicht leben konnten, und die Orte, wo man sie nicht hineinließ. Im Zeichen der wachsenden Flüchtlingskrise sollte die Welt diesen Fehler nicht noch einmal machen.
Der Autor hat seinen Beitrag mittlerweile auch ins Chinesische übersetzt. Die chinesische Version ist auf Times of Israel nachzulesen.