Eine Führung für Blinde und Sehbehinderte durch die Ausstellung Welcome to Jerusalem im Jüdischen Museum Berlin
Ein »Museum für alle«, also »zugänglich« – das wollen wir sein bzw. werden. Der Weg zu diesem Ziel ist lang und nicht immer einfach zu beschreiten, und auch die richtige Richtung ist nicht immer leicht zu bestimmen: Neue Ansätze müssen entwickelt, erprobt und mitunter auch wieder verworfen werden. Das, was den Zugang für die*den Einzelne*n erschwert oder gänzlich verbaut, kann zudem sehr unterschiedliche Ursachen haben: Mal bildet die Sprache die Barriere, mal die Architektur, mal die Art der Vermittlung, mal das Thema oder die Perspektive, um nur einige zu nennen.
Umso wichtiger ist für uns deshalb das Feedback unserer Besucher*innen: Ihre Kritik hilft uns, bestehende Angebote zu verbessern und zugänglicher zu machen. Und Ihr Lob motiviert uns, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, auch gegen Widerstände, die uns leider mitunter begegnen. Auch deshalb haben wir uns über die Erlaubnis zum Nachdruck des folgenden Beitrags von Gerald Pirner sehr gefreut, der für so manche*n eine neue Perspektive auf die Ausstellung Welcome to Jerusalem eröffnen könnte …
Nach den Eingangskontrollen der Lichthof. Licht erfahren da nicht nur die Sehenden: eine Weite tut sich hier akustisch auf, als träte man ins Freie und ist doch in einem geschlossenen Raum. Aber was für ein Raum: wie überdimensionale Zweige führt eine Balkenkonstruktion die Augen der Sehenden vor den großen Glasfenstern nach oben, als hätte man eine überdimensionale, aber luftige Sukka (Laubhütte) betreten. Und als solche hat der Architekt Daniel Libeskind diesen Lichthof des Jüdischen Museums auch konstruiert, einen Raum, der an die Sukkot der Tora, die Laubhütten der Israeliten auf dem Weg durch die Wüste in das Land Kanaan erinnern soll.
»Lasst uns hinaufgehen nach Jerusalem«
, diesem Vers aus den Psalmen folgend, steigen wir die Treppe hoch im Altbau des Jüdischen Museums hin zur Ausstellung Welcome to Jerusalem.
Mit einem tastbaren Schild werden wir vom Museumsguide Johannes Schwarz begrüßt, dem Schild, das die Stadtgrenze anzeigt: »Welcome to Jerusalem«
ist da in den drei Sprachen, die heute im Heiligen Land Amtssprachen sind – also auf Englisch, Hebräisch und Arabisch – zu lesen und für uns in erhabener Schrift eben auch zu ertasten.
Dieser Beginn ist für die Führung von Johannes Schwarz Programm, entwickelt er doch aus dem Klang des Hebräischen heraus durch die Ausstellungsräume eine Stadtführung, deren Atmosphäre sich vor allem aus plastisch vorgetragenen Erzählungen, seinen eigenen Erfahrungen von Alltag und Leben in Jerusalem folgend, speist.
Markante visuelle wie akustische und tastbare Momente streifend, bietet uns die Führung einen akustischen Eindruck des Verkehrschaos der Stadt, ebenso wie Beschreibungen von Gerüchen und visuelle Eindrücke verschiedener Viertel Jerusalems, wie die Bilder auf drei großen Videoleinwänden: »Da kommt gerade eine Straßenbahn auf uns zugefahren,«
so eine sehende Teilnehmerin, die sich in den sehr sinnlich gestalteten Rundgang mit uns zusammen hineinziehen lässt.
Die Führung konzentriert sich auf die jüdische Religion, die in Gesängen zum Bar Mitzwa Fest vor der Klagemauer einen ersten Ausdruck findet und sich so aus dem akustischen Chaos des Straßenlärms herausschält. In mehreren Tastmodellen werden der zerstörte Tempel, der Felsendom sowie die Al-Aqsa-Moschee und die Grabeskirche ertastbar.
Verschiedene Kippot, also Gebetskäppchen, mit sehr weltlichen Motiven bestickt, wie etwa eine mit der Lisa von den Simpsons, halten wir in Händen. Ihnen folgt ein Gebetsmantel mit den Schaufäden, hebräisch: Zizit, die an allen seinen vier Ecken angebracht sind. Wenn der Gläubige sie ansieht, wird er an die Einhaltung der Gebote des Herrn erinnert, der Blinde dann wohl durch Berührung, wenn er den Gebetsmantel trägt, der wie ein Schal umzulegen ist, und die Kordeln ihm in seinen Bewegungen gegen den Körper tippen.
Und wir lernen Jerusalem als Projektionsfläche auch des Christentums kennen: Anhand einer tastbaren Karte aus dem 15. Jahrhundert, die Jerusalem als Mittelpunkt der Welt zeigt, erläutert uns unser Guide, wie sich diese Projektion in einer geografischen Darstellung spiegelt.
Nach neunzig sehr kurzweiligen Minuten folgen wir unserem Guide wieder hinunter in die Sukka, neunzig Minuten, die nicht nur unsere Neugier geweckt haben, die uns vor allem einen wunderbaren Vorgeschmack vermittelten und eine Lust, diese sehr aufregende Stadt tatsächlich auch zu besuchen.
Gerald Pirner ist blind und schreibt Essays zu Kunst, Musik und Film, die er regelmäßig auf seinem Blog Texte zur Kunst veröffentlicht.
Wir danken Gerald Pirner für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck des Textes. Der Text erschien zuerst in den Vereinsnachrichten des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV).
Mit der Konzeption der Führung hatte das Jüdische Museum den blinden Kulturvermittler Jonas Hauer beauftragt, der auch die tastbaren Materialien zur Führung erstellt hat. Mitglieder des AK Kultur und Freizeit des ABSV standen dem Museum bei der Weiterentwicklung dieses Formats beratend zur Seite und schulten die Mitarbeiter*innen des Museums.
Mehr zur Führung und die jeweils aktuellen Termine finden Sie
im Veranstaltungskalender auf der Website des Jüdischen Museums , die nächste Führung findet am 14. März 2019 um 18 Uhr statt.