Eine Museumsvitrine macht im Handumdrehen jeden beliebigen Gegenstand zu Kunst. Nun kann ich herausfinden, was sie aus einem Alltagsmenschen macht. Ich sitze in dem Schaukasten der aktuellen Sonderausstellung »Die ganze Wahrheit … was Sie schon immer über Juden wissen wollten«. Die Besucher gehen vorbei und wir beobachten uns gegenseitig. Viele lesen den Wandtext, werfen mir einen Blick zu und huschen davon.
Einige bleiben stehen, in sicherem Abstand. Ich räuspere mich, lächele einladend, deute auf den Button an meiner Bluse »Ask me, I’m Jewish«. Qualifiziert für diese Rolle, so die Rede zur Vernissage, habe mich die Behauptung, ich könne »die ganze Wahrheit« über die Juden verraten. Wird jemand danach fragen? Der Abstand verringert sich allmählich. Ein Mann will wissen, was die Exponatenbeschriftung am Schaukasten besagt – er hat seine Lesebrille nicht dabei. »Spezies: Diasporajüdin, Subspezies: Osteuropajüdin, Variante: Bananenjüdin«. Danke, sagt der Mann und geht rasch davon. »Bananenjüdin? Nie gehört«, sagt eine Frau. So wurden in Polen Juden genannt, erkläre ich, die von den Verwandten aus dem Westen mit Zitrusfrüchten und Bananen versorgt wurden.
Zögerlich kommen weitere Menschen hinzu, die Gruppe vor meinem Kasten wird größer. »Darf man zu einem Sederabend Blumen mitbringen?« »Kann man eine Vorhaut wieder annähen?« → weiterlesen