Seit dem 30. Januar 2013 sind in unserem Online-Schaukasten Dokumente und Fotografien aus unseren Archivbeständen und denen des Leo Baeck Institutes zu sehen. Wir sind selbstverständlich nicht die einzigen, die online historische Quellen als Zeugnisse über die Zeit des Nationalsozialismus inszenieren. Ich habe mich umgesehen und möchte hier einige Angebote empfehlen:
Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Projekt von Torkel S. Wächter. 32 Postkarten veranlassten den schwedischen Schriftsteller, sich mit der Vergangenheit seiner deutsch-jüdischen Familie zu beschäftigen. Sein Vater Walter Wächter war 1938 nach Schweden geflohen und erhielt von seinen in Deutschland gebliebenen Eltern regelmäßig Karten. Torkel S. Wächter machte daraus das Internetprojekt www.32postkarten.com und veröffentlichte 2010/2011 jeweils 70 Jahre nach dem Tag, an dem die Karte geschrieben worden war, diese letzten Lebenszeugnisse seiner Großeltern, kommentiert und in den historischen Kontext gesetzt. Seine jahrelange intensive Beschäftigung mit der Geschichte seiner Familie präsentiert Wächter nun erneut als Online-Projekt: www.onthisday80yearsago.com. In literarischer Form, aber gestützt auf Briefe, Tagebuchnotizen und behördliche Dokumente, erzählt er die Geschichte seines Großvaters Gustav Wächter, eines Finanzbeamten, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft und durch Intrigen seine Arbeit verliert. Torkel S. Wächter veröffentlicht die Kapitel vom 30. Januar bis zum 2. Juli 2013 in »simulierter Echtzeit«, wie er es nennt, also als Re-Enactment der Ereignisse von 80 Jahren. Fortsetzungsroman, Weblog und Erinnerung gehen hier eine stimmige Verbindung ein. → weiterlesen
Der 10. Mai bildete den Höhepunkt der »Aktion wider den undeutschen Geist«, mit der die deutsche Studentenschaft im Frühjahr 1933 gegen politisch unliebsame oder jüdische Professoren und das ›zersetzende Schrifttum‹ zu Felde zog. Wir alle kennen die Aufnahmen von der sorgfältig vorbereiteten Bücherverbrennung in Berlin und das Denkmal von Micha Ullmann auf dem heutigen Bebelplatz, das den damaligen Flammenrufen eine mahnend stille wie leere Bibliothek entgegen setzt.
Das Jüdische Museum Berlin zeigt nun einige Bücher, die damals aus den Regalen entfernt und den Flammen überantwortet wurden. Es stellt damit Teile der Büchersammlung von George Warburg vor.
Es ist ein Vergnügen, die Einbände, die Gestaltung und den Drucksatz dieser Werke zu betrachten, besonders berührt aber hat uns das Anliegen, das George Warburg mit seiner Sammlung verband: In diesem Videointerview erzählt er nicht nur, welche Werke ihm besonders am Herzen liegen. Er beschreibt seine Sammlung auch als einen Versuch, jene Bücher, die von den Nationalsozialisten verbrannt, verboten oder ausgesondert wurden, nachträglich den Flammen zu entreißen.
Warburgs »Denkmal gegen den Schwachsinn der Nazis« holt das, was Ullmanns unterirdische Bibliothek erinnert, wieder ans Tageslicht.
Bisher haben literarische Texte über jüdische Themen auf unterschiedliche Weise zur Entwicklung der jüdischen Kultur beigetragen. Einige Texte bezweckten die Dokumentation und Wiederbelebung der mündlichen Überlieferung und des Volksmärchens, um sie vor dem Vergessen zu bewahren (z.B. Martin Bubers Die Erzählungen der Chassidim). Mit anderen wurden jüdische Themen der Mehrheitsbevölkerung zugänglich gemacht (wie Sidney Taylors All-of-a-Kind Family), während wieder andere dem Wiederaufbau einer jüdischen Gemeinschaft vor dem Hintergrund gemeinsamer Erfahrungen von Ritual, Emigration und Verfolgung dienten (so Friedrich Torbergs Die Tante Jolesch: oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten).
Nathan Englander, einer der anspruchsvollsten und provokantesten Autoren der Gegenwart, teilt keine dieser Absichten. Sein neustes Buch, Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden, ist eine Sammlung von acht Kurzgeschichten. Lose zusammengehalten werden sie durch den Titel der ersten Geschichte (der zugleich ein Zitat aus dieser ist), in der es um eine hitzige Debatte über den Genozid geht; der Titel bezieht sich auf Anne Frank nicht als historische Figur, sondern als Metonymie des Opfers. In den Geschichten wird über die Auswirkung jüdischer Themen wie Religion, Holocaust und Israel sowie die moderne jüdische Identität reflektiert. Dabei ist der Blick des Autors der eines Insiders – er wurde 1970 als Sohn jüdisch-orthodoxer Eltern in New York geboren – und zudem kritisch. Mit seinen fesselnden, sehr persönlichen und nahegehenden Geschichten, die an Theaterszenen erinnern und von intensiven Dialogen durchdrungen sind, hinterfragt er die Gültigkeit jüdischer kultureller Praxis: → weiterlesen