Davids Beschneidung
Warum auch ein Fragezeichen eine Geschichte erzählen kann
Ergänzend zu unserer Ausstellung Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung in Deutschland haben sich unsere Mitarbeiter*innen auf die Suche nach jüdischen und muslimischen Interviewpartner*innen gemacht, die aus ihrer ganz persönlichen Sicht über das Thema berichten können. Weil sie sich für die Beschneidung ihres Sohnes entschieden haben oder dagegen. Sie hörten sich im Bekanntenkreis um, starteten einen Aufruf in unseren Netzwerken und bekamen diverse Rückmeldungen. Einige der Erzählungen, die zunächst zum Schmunzeln anregten, haben uns auch nachdenklich gestimmt – so wie die Geschichte von David.
Von David erzählte uns Shlomit Tulgan, eine Kollegin aus der Bildungsabteilung, die ihn als Jugendliche kennen gelernt hatte. Er sei Sohn einer assimilierten jüdischen Mutter gewesen und habe sich im Alter von 22 Jahren für eine Beschneidung im Jüdischen Krankenhaus Berlin entschieden. Seine Begründung für diese Entscheidung war damals: Er wolle „zu seinen Wurzeln zurückkehren und das nachholen was seine Eltern ihm verwehrt haben“. David sei „kein Kind von Traurigkeit“ gewesen, erinnert sich Shlomit, die ihn vor allem im Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde Berlin in der Joachimstaler Straße traf. Fast jeden Monat war er in ein anderes jüdisches Mädchen verliebt und trotz seines aktiven und sprunghaften Beziehungsverhaltens bei den Frauen sehr beliebt. Entsprechend groß war die Anteilnahme im Jüdischen Jugendzentrum, als Davids Beschneidung schließlich durchgeführt wurde. Während der junge Mann sich im Krankenbett von dem Eingriff erholte, habe sein libanesischer WG-Freund Salim die Besuchszeiten koordiniert – um zu vermeiden, dass David vom gesamten Jugendzentrum auf einmal überrannt wurde.
Auch Shlomit wollte David gemeinsam mit drei Freundinnen besuchen und meldete sich bei Salim für einen Termin. Dessen Antwort ernüchterte: „David lässt ausrichten, dass er euch nicht sehen will.“ Auf die enttäuschte Frage „Warum?“ erwiderte Salim mit einem leidenden Gesichtsausdruck: „Momentan bekommt David beim Anblick schöner Frauen zu starke Schmerzen.“ Die Erzählerin meinte, dass sie die mitfühlenden Gesichtsausdrücke mit den ‚oooh’s‘ und ‚uuuh’s‘ ihrer Freundinnen noch immer lebhaft erinnere.
So weit, so kurzweilig: Die kleine Anekdote machte uns neugierig und wir versuchten, mehr über David zu erfahren – was war die Geschichte hinter der Geschichte? Unsere Kollegin erzählte uns von seiner Mutter, die amerikanische Jüdin war und im Berliner Hauptquartier der US-amerikanischen Truppen, dem Dienstsitz der Navy arbeitete. Sie starb an Krebs, als David gerade einmal zwölf Jahre alt war. Sein deutscher, nicht-jüdischer Vater hatte sowohl die Beschneidung als auch die Bar Mizwa verboten. Das habe David ihm sehr nachgetragen und schließlich auch den Kontakt zu ihm abgebrochen.
Vor 20 Jahren wanderte David dann nach Israel aus – mit der Emigration hat unsere Kollegin Shlomit leider auch den Kontakt zu ihm verloren. Mittlerweile soll er weiter in die USA gezogen sein und als amerikanischer Soldat auf einem Kriegsschiff in der Golf-Region dienen. Er sei eben schon immer „sehr speziell gewesen, aber ein sehr lieber Kerl“, meint sie.
Gerne hätten wir mit David (der eigentlich anders heißt) persönlich gesprochen und mehr über sein anscheinend bewegtes Leben erfahren. Aber wir fanden den kleinen Einblick in seine Geschichte, den uns Shlomit mit ihrer Anekdote verlieh, bereits so interessant, dass wir ihn Ihnen nicht vorenthalten wollten.
Alice Lanzke, Medien
Zitierempfehlung:
Alice Lanzke (2015), Davids Beschneidung. Warum auch ein Fragezeichen eine Geschichte erzählen kann.
URL: www.jmberlin.de/node/6571
Blick hinter die Kulissen: Beiträge zur Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“ (9)