Eine Schachtel voller Schicksale
Jüdische Zwangsarbeiter bei Ehrich & Graetz in Berlin-Treptow
Anhand von Fotos, Briefen, Dokumenten und einzelnen Objekten präsentierte das Jüdische Museum Berlin mit der kleinen Vitrinenausstellung die Ergebnisse eines 15-jährigen Rechercheprozess und gewährte damit sowohl Einblicke in die Biografien einzelner ehemaliger Zwangsarbeiter*innen als auch in die Arbeit des Museums.
Die Schachtel
Im Jahr 1988 erhielt die Jüdische Abteilung des Berlin Museums ein einzigartiges historisches Zeugnis: eine Schachtel mit fast eintausend Passfotos, die in Pergaminhüllen aufbewahrt waren. Aus dem Bestand ging lediglich hervor, dass es sich um Fotografien von mehr als 500 Berliner Jüd*innen handelte, die zwischen Herbst 1940 und Februar 1943 bei dem Metall- und Elektrounternehmen Ehrich & Graetz in Berlin-Treptow Zwangsarbeit leisten mussten. Diese Fotos hatten zwei Mitarbeiterinnen der Firma in den letzten Kriegstagen gerettet. Zwar waren die Namen der Personen verzeichnet, aber das Objekt warf viele Fragen auf.
Fragen an das Objekt
- Wer waren die Menschen, die hier abgebildet sind?
- Wie haben sie gelebt, was war ihr Schicksal?
- Gab es Überlebende und wenn ja, wie haben sie überlebt und wie verlief ihr Leben nach dem Krieg?
Diese Fragen standen am Anfang eines intensiven und bis heute andauernden Rechercheprozesses, der zu zahlreichen Korrespondenzen, Kontakten und Begegnungen geführt hat. Ein Ergebnis dieser Nachforschungen ist die Museumspublikation Jüdische Zwangsarbeiter bei Ehrich & Graetz, die im September 2003 im DuMont Literatur und Kunst Verlag erschienen ist. Die Veröffentlichung dieses Bandes führte wiederum zu weiteren Kontakten, Stiftungen und Leihgaben an das Jüdische Museum Berlin.
Die Ausstellung
Die Ausstellung stellte mehrere Biografien dar, darunter die Geschichte von Hans A. Rosenthal, einem ehemaligen Zwangsarbeiter bei Ehrich & Graetz. Bei den Museumsrecherchen nahm er eine Schlüsselrolle ein, obwohl er selbst erst 1993 bei einem Empfang des Berliner Senats für eine Gruppe ehemaliger Berliner Jüd*innen von den Zwangsarbeiterfotos erfahren hatte. Der Kontakt zum Museum brachte nicht nur den Rechercheuren viele neue Einzelheiten über Personen, mit denen Hans A. Rosenthal bekannt war, auch er selbst bekam wichtige Informationen über Schicksal und Verbleib früherer Freund*innen und Bekannten. Mit einigen von ihnen konnte er den Kontakt nach mehr als 50 Jahren wieder aufnehmen. Der Biologe und ehemalige Leiter der Abteilung Virologie an der Berliner Charité hat im Rahmen der Buchveröffentlichung eng mit dem Museum zusammengearbeitet und dabei auch über seine Inhaftierung im Sammellager Rosenstraße berichtet. Seine Mutter und viele andere Frauen hatten tagelang in der Rosenstraße protestiert, um die Freilassung ihrer Söhne und Ehemänner zu erreichen.
Der in Schweden lebende Stefan Prager erfuhr durch die Museumspublikation Neues über das Schicksal seiner Mutter. Seine Eltern, Ruth und Wolfgang Prager, waren am 27. Oktober 1941 aus Berlin in das Ghetto Lodz deportiert worden und kamen dort ums Leben. Stefan Prager stand schon länger mit einer Archivarin des Museums in Verbindung und stellte dem Museum 1999 eine Reihe von Dokumenten und Fotografien seiner Familie in Kopie zur Verfügung. Darunter waren Briefe, die seine Eltern ihm aus Berlin nach Schweden geschickt hatten, wohin er und seine Schwester im Frühjahr 1939 mit einem Kindertransport gelangt waren. Seine Mutter mußte bei Ehrich & Graetz Zwangarbeit leisten – ein Foto von ihr in der Museumspublikation dokumentiert dies. Die Archivarin wies Stefan Prager darauf hin und es stellte sich heraus, dass er von der Zwangsarbeit seiner Mutter bei Ehrich & Graetz nichts gewußt hatte. Beim nochmaligen Durchlesen der Briefe fand er mehrere Stellen, in denen seine Mutter die Fabrikarbeit erwähnt. Ende letzten Jahres hat Stefan Prager diese Briefe dem Museum geschenkt.
Stefan Prager und Hans Rosenthal sind ehemalige Klassenkameraden. Gemeinsam sprachen sie bei der Eröffnung über ihre Erfahrungen.
Informationen zur Ausstellung im Überblick
- 21. Apr bis 27. Sep 2004
Lindenstraße 9–14, 10969 Berlin
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Libeskind-Bau UG