Am Vorabend von Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, blicken Martin und Jenny Held auf das zu Ende gehende Jahr zurück. Ihr Leben hat sich komplett geändert: Letztes Jahr noch zu Hause in Berlin-Schöneberg, befinden sie sich jetzt im spanischen Exil, Hunderte Kilometer entfernt von ihren Freunden und Verwandten. In einem Brief wenden sie sich an Martins Schwester Clara und deren Mann Leopold Lemke, um ihnen alles Gute für das Jahr 5694 zu wünschen.
Zuerst greift die 51-jährige Jenny Held, geb. Wolff, zur Feder. Sie berichtet, dass die Familie vor mehr als zwei Wochen aus Deutschland emigriert und nun in Barcelona untergekommen ist. Um »das Abschiednehmen nicht noch extra [zu] erschweren«, hätten sie vor ihrer Abreise nicht Bescheid gegeben. Ihr wichtigster Wunsch für das neue Jahr gilt »einer wieder sicheren Verdienstmöglichkeit«. Auch Martin Held, 1879 in Bromberg geboren, steht noch ganz unter dem Schmerz, seine »Heimat« verlassen zu haben. Aus seiner Sicht geht die Familie einer schweren Zukunft entgegen. Dabei deutet er nur an, in welchen finanziellen Schwierigkeiten sie sich befinden. Rosch ha-Schana ist ein Freudenfest, da will er seine Verwandten nicht mit Sorgen belasten.
Ein paar Wochen später schüttet er dann in einem weiteren Brief, geschrieben am 20. November, sein Herz aus: Obgleich er die Emigration gut vorbereitet hatte – im Mai des Jahres war er extra für »2-3 Wochen« in Barcelona gewesen, um sich »zu orientieren« –, sei alles schief gegangen: »da nichts, auch nichts klappt, also nicht nur allein keinen Pfennig verdienen, sondern immer nur Ausgaben, bin ich bald am Ende & dadurch der Verzweiflung nahe«. Der Kaufmann offenbart seiner Schwester und seinem Schwager, er käme sich »wie der unfähigste Mensch vor & verfluche den gefaßten Entschluß nach hier gegangen zu sein«. Neulich habe er einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten. Nur seiner tapferen Frau Jenny sei es zu verdanken, dass es ihm wieder etwas besser gehe.
Über das weitere Schicksal der Familie Held ist wenig bekannt. Während des Spanischen Bürgerkrieges suchte Jenny Held monatelang an der Küste Zuflucht vor den Luftangriffen auf Barcelona; sie konnte im Frühjahr 1938 zusammen mit ihrem Sohn Edwin in die USA fliehen. Ihre Tochter Hannelise war dorthin bereits im Herbst 1936 ausgewandert. Martin Held sollte den rettenden US-amerikanischen Boden nicht mehr erreichen: Er starb noch in Spanien.
Jörg Waßmer
Dienstag, d. 19.9.33
Barcelona, Paseo de Bonanova 32
bei Max Wolff
Meine sehr Lieben! Euch ist es sicher nicht mehr unbekannt, dass wir seit einigen Tagen, nach einer 12tägigen Seefahrt, hier in Barcelona gelandet sind. Wir melden uns erst direkt aus unserm neuen Wohnort; denn wir wollten uns gegenseitig das Abschiednehmen nicht noch extra erschweren. Es ist so unendlich schweres in den letzten Wochen auf uns hereingestürmt, dass ich vor allem zufrieden und glücklich war, dass Martin alle Strapazen und Aufregungen glücklich überstanden hat! – Ich will heute nicht noch ausführlicher werden, denn anlässlich der Feiertage sind die Gedanken so voller Wehmut, da die Allernächsten so in alle Winde zerstreut sind. Wir wohnen noch ck. [circa] 14 Tage bei meinem Bruder, dann sehen wir zu, uns ein kleines, bescheidenes Heim zu schaffen.
Heute senden wir Euch allen zum neuen Jahre unsere allerherzlichsten Glückwünsche. Was wir uns alle gegenseitig wünschen, eine wieder sichere Verdienstmöglichkeit, möge uns beschieden sein! – Ist Meinhardt noch in Breslau?
Mit den herzlichsten Grüssen, und Wünschen die Feiertage gut zu verleben, verbleiben wir
Eure Jenny, Hannelise und Edwin
Meine lieben Geschwister!
Welche Schwierigkeiten [wir] zu überbrücken hatten, ehe wir soweit waren, vermag ich kaum zu schildern. Meine Angelegenheiten sind aber schließlich so geordnet, daß ich jederzeit wieder nach Deutschland reisen kann & ich hoffe sogar im Winter auf einige Tage in Berlin & vielleicht auch zu Euch & den anderen Geschwistern kommen zu können, was mir jetzt, trotz m[einer] Vornahme zur Unmöglichkeit wurde. Nun sind wir hier, schwer genug ist es uns geworden, unsere Heimat verlassen zu müssen & weh genug ist mir immer noch zu Mute. Es heißt jetzt sich eine neue Existenz aufzubauen & es ist mir vollkommen klar, daß dieses, da mir nur geringe Mittel zur Verfügung stehen, nicht leicht werden wird. Dessen dürft Ihr aber sicher sein, ich werde, wenn wir auch räumlich sehr entfernt sind, Euch meine Lieben alle, nicht vergessen! Ohne viel von Euch zu wissen, ist es mir klar, daß Ihr heute mehr denn je zu kämpfen haben werdet, aber laßt, wie ich es ja auch tun muß, den Mut nicht sinken. Wir haben ja alle Gottvertrauen, wir haben allesamt niemanden, wenigstens wissentlich nichts böses getan & so wird, dieses wollen wir uns für das herannahende neue Jahr gegenseitig wünschen, der gütige Gott seine schützende Hand über uns ausbreiten.
Also nochmals, Kopf hoch, nicht verzagen, frohe Feiertage, zum Versöhnungstage betet Euch alles Gute aus & innigste Grüße stets & immer Euer Euch liebender
Martin
Schreibt uns doch recht bald & ausführlich. Herzl[iche] Gratulation & Grüße auch den Kindern. Von Meinhardt möchte ich gern die Adresse haben. Meinh[ardt] schrieb mir zwar vor einiger Zeit, ich finde aber seinen Brief nicht.