»Die Erfahrungen, die ich in Amerika machte in Bezug auf die Hilfsbereitschaft für die deutschen Juden, sind äusserst traurig.« Mit dieser Feststellung beginnt Henry Rothschild (1870–1936) seinen weitsichtigen Bericht über die Möglichkeiten deutscher Juden auszuwandern, verfasst nach einem dreimonatigen Aufenthalt in den USA.
Der Philanthrop – ehemaliger Inhaber der Schrott- und Metallfirma J. Adler jun. und eines der führenden Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main – hält die bisherigen Hilfsleistungen der amerikanischen Juden für völlig unzureichend. Es werde viel geredet, aber wenig getan. Aus seiner Sicht müssten viel mehr deutschstämmige Juden in den USA ihren bedürftigen Verwandten, Freunden oder Bekannten Bürgschaften (Affidavits) ausstellen, um ihnen die Einwanderung zu ermöglichen. Noch aussichtsreicher scheint Rothschild die Bereitstellung unbesiedelter Gebiete in den USA und gegebenenfalls auch in Kanada zu sein. Voraussetzung hierfür seien allerdings umfassende Umschulungen in Deutschland, damit die Einwanderer als Landwirte oder Handwerker arbeiten könnten, und deren Verpflichtung, langfristig in dem zu besiedelnden Territorium zu wohnen.
Obwohl selbst kein Zionist, bewundert Henry Rothschild die in Palästina vollbrachten Leistungen. Er stellt jedoch klar, dass man dort nur eine begrenzte Anzahl Emigranten aus Deutschland aufnehmen kann. In den USA und vielleicht auch in den britischen Kolonien sieht er die besten Möglichkeiten, den »zur Auswanderung bereiten und geeigneten deutschen Juden« eine neue Existenz zu verschaffen. Die dringendste Aufgabe sei es jedoch, dass die ausländischen Juden »in ihren Organisationen für solche Gedankengänge reif werden«.
Es bleibt unklar, an wen Henry Rothschild seinen Bericht adressiert hat. Er selbst hat nicht mehr erlebt, wie wenig das Ausland bereit war, »die Massen aufzunehmen«, denn er starb im Juli 1936, tief betrauert von der Frankfurter Gemeinde.
Für seine Familie indes, seine Frau und die vier Töchter, wurden die USA kein Rettungsanker. Bertha Rothschild und ihre jüngsten Töchter Hilde und Friedel konnten auf Umwegen nach England entkommen. Louise, die älteste, wurde von den Niederlanden nach Bergen-Belsen deportiert, überlebte aber ihre 18-monatige Internierung. Lotte dagegen fiel den Deutschen 1944 in Frankreich in die Hände und wurde zusammen mit ihrer 12-jährigen Tochter in Auschwitz ermordet.
Aubrey Pomerance
Henry Rothschild
Telefon 33491
Telegramme: Confident Frankfurtmain
Code: Rudolf Mosse
Postcheckkonto: Frankfurt (Main) 50646
Frankfurt a. M., den 13. September 1933
Gutleutstrasse 40
Die Erfahrungen, die ich in Amerika machte in Bezug auf die Hilfsbereitschaft für die deutschen Juden, sind äusserst traurig. Es gibt zwar sehr viele Leute, die dauernd sich in allen möglichen rednerischen Formen über das, was in Deutschland vorgeht, auslassen. Sobald man ihnen aber auf den Leib rückt und statt Worten Taten sehen will, hat man damit wenig Erfolg.
Ich habe zu dutzenden malen den Leuten auseinandergesetzt, dass uns mit Versammlungen und Umzügen, mit Zeitungsartikeln und Boykott nicht im entferntesten gedient ist, ja dass diese Dinge unter Umständen die Lage für die Deutschen im allgemeinen und dadurch, dass sie Deutschland schädigen, auch die der deutschen Juden im besonderen noch weiter schädigen. Ich habe den Leuten immer wieder auseinander gesetzt, dass das, was sie da tun, mit dem Ausdruck destruktiv bezeichnet werden muss, während das, was uns nottut, konstruktive Arbeit ist, und ich sagte ihnen, dass ich dazu in erster Linie die Bereitschaft rechne, Opfer zu bringen. Die Geldsammlungen, die drüben bisher gemacht worden sind, bedeuten kein Opfer. Es ist eine reichlich kleine Summe, die man dort sammelt, sie bedeutet einen Tropfen auf einen heissen Stein. Opfer bringt überhaupt nur der, der selbst damit, dass er Leistungen vollbringt, sich irgend etwas auferlegt. Auch das habe ich den Leuten klarzumachen versucht.
Das, was sich jede einzelne Familie, sofern sie einigermassen in geordneten Verhältnissen drüben lebt, auferlegen könnte, besteht darin, dass sie gemäss der Einwanderungsvorschrift für einen oder mehrere, möglichst für eine Familie, das Affidavit unterzeichnet. Es gibt wohl kaum eine deutsche Familie, die nicht irgend einen näheren oder entfernten Verwandten, einen Freund oder auch
(Seite 2)
nur Bekannten hat, der not leidet hier und der drüben ein nützliches Glied werden könnte. Es liegt bloss daran, dass der Weg frei gemacht wird. Das ist so, wie hier geschrieben, möglich.
Darüber hinaus besteht für alle diejenigen, die etwa keine Nahestehenden hätten, denen sie Wohltaten zukommen lassen wollen, naturgemäss der Weg, durch die Organisationen zu helfen. Dafür wäre als erstes notwendig, dass die Organisationen selbst sich der Lage, in der sich die deutschen Juden befinden, bewusst sind und daraus die richtigen Schlüsse ziehen.
Meine Ansicht geht dahin, dass einer der sichersten Wege, um Hilfe zu bringen, der ist, dass einer ziemlich grossen Anzahl deutscher Juden (ich will nun keine Ziffer nennen, je grösser, desto besser) dünn oder noch garnicht besiedelte Landstriche in USA zur Verfügung gestellt werden, im Falle auch in Canada. Es gibt deren in so grossem Ausmass, um ein vielfaches grösser als Deutschland zum Beispiel, während ein Stück etwa von der Grösse der Provinz Starkenburg reichlich ausreichen würde, um etwa 50.000 Menschen aufzunehmen.
Die dorthin Auswandernden müssten sich verpflichten, in einer unfehlbaren Form, dass sie für längere Zeit dieses Territorium ausschliesslich als ihren Wohnsitz betrachten und dass sie bereit sind, durch Berufsumschichtung in diesem Landstrich als Handwerker oder Landwirte zu arbeiten. Es müsste Vorsorge getroffen werden, dass diese Neueinwandernden keinesfalls Konkurrenten schon dort bestehender Unternehmungen werden, noch auf irgend einem anderen Gebiet, letzteres eben dadurch, dass das Festhalten bei der Berufsumschichtung zwingend verankert wird.
Es würde zu weit führen, im einzelnen darzulegen, wie
(Seite 3)
das alles durchführbar ist. Die jetzige Not erfordert aussergewöhnliche Massnahmen, die zu ergreifen man eben den Mut aufbringen muss.
Wer sich die Mühe nimmt, in den Herzl’schen Tagebüchern die Entwicklung des Zionismus zu verfolgen, der wird nicht sich herausnehmen, etwa das im Vorstehenden niedergelegte als etwas Unmögliches zu bezeichnen. Ich bin kein Zionist, aber ich habe grösste Hochachtung vor dem, was in Palästina durch die Zionistischen Organisationen geleistet wurde, vor allem aber, mit welchem seherischen Blick Herzl selbst es feststellte, was Jahrzehnte später sich als notwendig erwies.
Palästina, auch unter Einzunahme der umliegenden Länder wie Syrien, Transjordanien usw. ist nicht in der Lage, mehr als 20/30.000.- deutsche Juden für die nächsten Jahre aufzunehmen. Das ist in Anbetracht der Not eine ganz ungenügende Zahl. Es müssen in anderen Erdteilen in ähnlicher Weise wie in Palästina, ja noch vollendeter, worauf ich gleich zurückkomme, gleichfalls Landstriche urbar gemacht werden. In Palästina haben viele nach verhältnismässig kurzer Zeit die Berufsumschichtung rückgängig gemacht, indem sie versuchten oder auch durchführten, vom Landwirt oder Handwerker wieder zum Handel und ähnlichem zurückzuführen. Diese Erfahrung muss in etwa neu urbar zu machenden Landstrichen dahin verwertet werden, dass den Betreffenden es unmöglich gemacht wird, in gleicher Weise zu verfahren. Ausnahmen mögen dann Platz greifen, wenn die gesundheitlichen Verhältnisse es erfordern.
Die Möglichkeit, solche Massen rasch auf die Umschichtung vorzubereiten, wäre in Deutschland zu treffen. Ansätze dazu sind vorhanden. Sobald erst vom Ausland die Bereitschaft gemeldet ist, die Massen aufzunehmen, wird sehr bald sich die Sache in Deutschland
(Seite 4)
in Gang setzen. Das dringendste ist, dass die ausländischen Juden, Amerikaner, Franzosen, Engländer, in ihren Organisationen für solche Gedankengänge reif werden. Es erleidet das keinen Aufschub. Jedes dieser Länder und viele andere auch, namentlich Grossbritannien in seinen Kolonien, wäre in der Lage, von sich aus allein die gesamten zur Auswanderung bereiten und geeigneten deutschen Juden aufzunehmen, wieviel leichter wird es möglich sein, wenn sich viele Länder darin teilen, diese unerlässliche Pflicht zu erfüllen. Es ist nicht damit gesagt, dass etwa mehrere ausländische Regierungen zusammenkommen, um zu überlegen, was zu tun ist. Die internationalen Zusammenkünfte haben im letzten Jahrzehnt sich nicht so bewährt, dass dies der Weg wäre, den man zu wählen hätte. Die ausländischen Juden mögen jeder bei seiner Regierung, nachdem sie selbst sich von der Notwendigkeit überzeugt haben, diejenigen Schritte tun, dass raschmöglichst die Auswanderung beginnen kann. In der Zwischenzeit werden sich die deutschen Juden darauf vorbereiten.