23. März bis 15. Juli 2012 Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren
Vorwärts-Haus
- Hochhäuser an der Lindenstraße, von der Brandesstraße aus gesehen im Jahr 2012 © Jüdisches Museum Berlin, Foto: Gelia Eisert
Die Berliner Lindenstraße, in der 2001 das Jüdische Museum Berlin eröffnet wurde, hat im Laufe des 20. Jahrhunderts einige Veränderungen erlebt. Wegen der Nähe zum Regierungsviertel und ihrer Bedeutung für das Zeitungswesen war die Gegend nach dem Zweiten Weltkrieg stark zerstört.
In den 1960er Jahren wurde das südliche Ende der Lindenstraße, seit 1961 in unmittelbarer Nähe der Berliner Mauer, umgelenkt. In den 1920er Jahren mündete die Straße aber noch direkt in den Belle-Alliance-Platz, der den südlichen Endpunkt der Friedrichstraße bildet. An diesem Ende befanden sich in der Lindenstraße 3 seit 1914 der Parteivorstand der SPD sowie Verlag, Redaktion und Druckerei des Parteiorgans »Vorwärts«.
Die SPD verfügte in diesem Gebäudekomplex in der Lindenstraße im Jahr 1925 über rund 27.000 Quadratmeter.
Statement der Wissenschaftlerin Gertrud Pickhan
Lindenstraße 3 – das »Vorwärtshaus« der SPD repräsentiert für mich eine kleine Internationale: Neben dem Parteiarchiv und dem Marx-Engels-Nachlass waren dort auch das Archiv der Menschewiki und des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbunds (»Bund«) untergebracht. Für deutsche, russische und jüdische Sozialist/innen war es die wichtigste Adresse in Berlin.
Prof. Dr. Gertrud Pickhan ist Mitarbeiterin des Projekts »Charlottengrad und Scheunenviertel« an der FU Berlin
Das Haus in der Lindenstraße galt nicht nur als »größte Arbeiterdruckerei der Welt«, es war auch ein bedeutender Treffpunkt der internationalen Arbeiterbewegung.
Bereits nach der Russischen Revolution von 1905, dem Aufstand gegen das Zarenregime, hatte es enge Kontakte zwischen deutschen und russischen Sozialdemokraten gegeben, darunter auch zahlreiche Juden.
Die SPD leistete wesentliche Unterstützung beim Aufbau des Auslandskomitees der jüdisch-sozialistischen Arbeiterpartei »Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund« (Bund), das in Genf saß. Der 1897 gegründete jüdische Arbeiterbund war eine säkulare sozialistische Partei, die sich unter anderem für die Anerkennung der Juden als eigene Nation mit gesetzlichem Minderheitenstatus einsetzte. Nach der niedergeschlagenen Revolution von 1905 mussten viele führende Bundisten Russland verlassen und gingen in die neutrale Schweiz.
Die deutschen Sozialdemokraten halfen vor allem beim Druck von Parteiliteratur. Dabei etablierte sich das Vorwärts-Haus in Berlin zu einem der wichtigsten Transferorte für jiddische und russische Publikationen, die von den im Schweizer Exil lebenden Bundisten über Berlin nach Russland geschickt wurden.
- Rotationsmaschinen in der »größten Arbeiterdruckerei der Welt«
© Bezirksmuseum Friedrichshain-Kreuzberg
Für den jüdischen Sozialisten und langjährigen Leiter des
Bund-Auslandsarchivs Franz Kurski, der selbst seit 1918 in Berlin lebte,
galt die Hauptstadt der Weimarer Republik als der beste Ort, »das
Archiv zu ordnen und vor bösen Geistern zu schützen«.
Das Auslandsarchiv des Bund, das nach der Revolution von 1905 in Genf
kontinuierlich erweitert wurde, zog Ende des Jahres 1925 in das Berliner
Vorwärts-Haus. Bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten
fand das 236 Bücherkisten umfassende Archiv im Vorwärts-Haus einen neuen
Standort und wurde von Besuchern aus aller Welt zur Forschung genutzt.
- Emblem der Berliner Gruppe des Bunds © YIVO Archives
- Rafael Abramowitsch (1. Reihe, 5.v.l.) mit einer Gruppe von Menschewiki in Berlin © YIVO Archives
Nach der Oktoberrevolution mussten einige Menschewiki, die gegenüber der Partei Lenins, den Bolschewiki, eine andere Position in Hinblick auf den Aufbau der neuen Sowjetunion und der sozialistischen Partei vertraten, Russland verlassen.
Einer der bekanntesten Menschewiki im Berliner Exil war Rafail Abramowitsch (Pseudonym von Rafail Rein). In Berlin wurde er leitender Chefredakteur des »Sozialistitscheski westnik« (Sozialistischer Kurier) in Berlin. Abramowitsch veröffentlichte mehrere deutschsprachige Schriften über die Sowjetunion und ging im Vorwärts-Haus ein und aus.
Unter deutschen Sozialdemokraten galt Abramowitsch als anerkannte moralische Autorität bei der Deutung der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in der Sowjetunion.
Gleichzeitig war Abramowitsch Mitglied des »Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes« (Bund). In Berlin verdiente er sich seinen Lebensunterhalt vor allem als Deutschlandkorrespondent für die große jiddische Tageszeitung »Forverts« in New York.
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