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Tradition und Revolution – Frauen als spirituelle Vorbilder

Ein Interview mit Rabba Sara Hurwitz

2009 wurde Sara Hurwitz als erste jüdisch-orthodoxe Frau am Hebrew Institute of Riverdale in New York City ordiniert. Im selben Jahr gründete sie zusammen mit Rabbiner Avi Weiss die Yeshivat Maharat – das erste orthodoxe Seminar für Frauen. Die Yeshivat Maharat bietet heute einer tat­kräftigen Gruppe von Frauen die Möglichkeit, sich inner­halb der hala­chischen Gesetze als Geistliche ordinieren zu lassen. Es überrascht nicht, dass Rabba Sara Hurwitz auf die Frage, welche Revolution sie bewundere, antwortet: „Die Frauen­bewegung, vor allem in den 1960er- und 70er-Jahren. Sie half der Welt, sich mit der Idee anzu­freunden, dass 50 Prozent ihrer Bevölkerung – die Frauen – gleich­wertige Fähig­keiten und Talente besitzen und mit Leiden­schaft zur Gesell­schaft beitragen wollen!“

Wir haben ihr ein paar Fragen zu Frauen in geist­lichen Führungs­rollen, zur #metoo-Bewegung und zur digitalen Revolution gestellt:

Das orthodoxe Judentum gilt als streng traditionell. Lässt sich Ihre Arbeit und speziell die Gründung der Yeshivat Maharat als eine revolutionäre Bewegung beschreiben? Gab es Wider­stände, als Sie die Schule aufbauten? Wie gingen Sie damit um?

Dass Frauen in der geist­lichen Führung des Juden­tums tätig sind, hat im Grunde tiefe Wurzeln in der Geschichte. Unsere Arbeit in der Yeshivat Maharat baut auf dieser Tradition auf, indem sie Frauen zu einer soliden Aus­bildung und einer Qualifikation verhilft, mit der sie den Bedürfnissen einer Gemeinde als spirituelle Leitung gerecht werden können. Das größte Hindernis für unsere Absolven­tinnen ist nach wie vor, dass sie in vielen Fällen die ersten weib­lichen Geist­lichen sind, die die Gemeinde­mitglieder je gesehen haben. Aber wenn die Gemeinde sie kennen­gelernt, mit ihr studiert, bei ihr in schwerer Zeit Trost gefunden hat, sagen uns alle, dass sie sich die Gemeinde ohne ihre Maharat-Alumna gar nicht mehr vorstellen können.

Porträt einer in die Kamera lächelnden jungen Frau mit schulterlangen dunklen Locken, schwarzem Hut und blauer Bluse.

Rabba Sara Hurwitz; Foto: Poppy Studio

Kamen Sie je an einen Punkt, an dem Sie auf­geben wollten? Und fanden Sie dann Unter­stützung, die Sie zum Weiter­machen bewegte?

Vor allem 2010, während der Kontro­verse um meinen Titel, gab es Tage, an denen ich mich zurück­ziehen und nicht länger im Zentrum eines Feuer­sturms stehen wollte. Aber auch da erfuhr ich viel Unter­stützung von Mädchen, Männern und Frauen, die froh darüber waren, Frauen als spirituelle Vor­bilder zu haben. Ich habe ein Umfeld, das mich sehr unter­stützt, sowohl in meiner Familie als auch in meiner Gemeinde. Dazu gehört auch die Synagoge des Hebrew Institute of Riverdale, wo ich in wohl­wollender Umgebung in meine Rolle als Geistliche hinein­wachsen konnte.

Die Kontroverse, die Sie erwähnen, erhob sich nicht so sehr, als Sie ordiniert wurden, sondern einige Zeit später, als Rabbiner Avi Weiss Sie Rabba nannte anstelle des bis dahin gebrauchten Titels Maharat (ein Akronym der hebräischen Worte manhiga hilkhatit rukhanit toranit, „Geistliche Gelehrte des jüdischen Gesetzes und der Tora“). Welche Rolle spielen Worte, wenn es um den Wandel jahr­hunderte­alter Traditionen geht?

An der Yeshivat Maharat meinen wir, dass da, wo hoch­qualifizierte Geistliche als halachische und spirituelle Lehre­rinnen ordiniert werden, Titel zweit­rangig sind und sich mit der Zeit von selbst ergeben. Unsere Absolven­tinnen sind in der Tradition verankert, unge­achtet ihrer Titel, und viele von ihnen stützen sich auf die Tradition, wenn sie für sich den Titel wählen, der ihnen ange­messen scheint.

Viele Menschen bezeichnen #metoo als revolutionäre feministische Bewegung. Hat diese Debatte für Sie oder für Ihre Studentinnen etwas verändert?

Zu unserem seel­sorgerischen Programm gehört eine vertiefte Aus­bildung darin, Menschen in Zeiten der Not zu helfen, vor allem Menschen, die ausge­grenzt werden. Wir sehen uns in einer besonderen Position, was die Unter­stützung von Frauen betrifft, die #metoo-Erfahrungen erlitten haben, und auch, was den Einsatz für not­wendige Präsenz von Frauen in Führungs­rollen angeht, um künftige #metoo-Situationen zu vermeiden.

#metoo wäre ohne das Internet nicht möglich gewesen. Glauben Sie, die digitale Revolution macht es leichter, Traditionen zu verändern? Hat sie sich auf Ihre eigenen Ent­scheidungen ausgewirkt?

Zweifellos hat das Internet bewirkt, dass mehr Stimmen sich an Diskussionen beteiligen – im Guten wie im Schlechten. Manchmal macht es einen Wandel von Traditionen leichter, weil wir Ideen schnell verbreiten und damit auch Menschen und Gemein­schaften erreichen können, mit denen wir vorher nicht in Kontakt standen. Manchmal aber erschwert es den Wandel auch, weil die­jenigen, die gegen Ver­änderung sind, sehr schnell sehr laut werden können.

Wie sähe eine Revolution aus, die Sie begrüßen würden?

Was ist eigent­lich eine Revolution?! Wenn etwas Neues beginnt, mag es zunächst revolutionär wirken. Doch es liegt in der Natur des Fakten-Schaffens, dass aus der Revolution eine Art natürliche Evolution hin zu einer neuen Normalität wird – und schließlich ein fester Teil der Textur einer Gemein­schaft.

Liebe Frau Hurwitz, wir danken Ihnen für die Beantwortung unserer Fragen!

Die Fragen stellte Marie Naumann, Redakteurin des JMB Journals, die sich als Gleichstellungs­beauftragte besonders freut, wenn Frauen „Männerberufe“ ergreifen.

Zitierempfehlung:

Marie Naumann (2018), Tradition und Revolution – Frauen als spirituelle Vorbilder. Ein Interview mit Rabba Sara Hurwitz.
URL: www.jmberlin.de/node/10633

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