Irene Runge
Kurzinterview und Foto von der Ausstellungseröffnung Frédéric Brenner – ZERHEILT
Dr. Irene Runge, geb. 1942 in New York, NY. Ab 1949 Ostberlin (DDR).
Wie kam es zur Idee der Inszenierung in Ihrem Porträt?
Frédéric hatte die Idee. Vermutlich, weil wir uns lange kennen. Schon vor 20 Jahren hatte er mich für ein Buch porträtiert …
Wie erleben Sie jüdisches Leben in Berlin?
Durchwachsen. Ich wäre gern aktiver. Inzwischen gehöre ich zur fast ältesten Generation! Kaum jemand ist z.B. in der Chabad-Synagoge Alexanderplatz so alt wie ich … Neue jüdische Freundinnen und Freunde finde ich – wenn überhaupt – fast nur im Umfeld von Synagogen. Das ist absurd. Mir fehlen jüdische Kulturhäuser, ein JCC, offen für alle, mit Theater, Kino, Restaurant, Büchern, Café, Klubleben, wo man neue Leute trifft, kleine Gespräche und große Debatten auch zu globalen jüdischen Themen stattfinden… Wie in Manhattan. Man wird zahlendes Mitglied, aber vermutlich ist Berlins jüdische Bevölkerung dafür zu klein, dementsprechend undifferenziert, auch desinteressiert … Die Jüdische Gemeinde hat 10 000 Mitglieder, doch nirgends erfasst sind Tausende, die zusätzlich zu sowjetischen Einwanderern nach 1990 dank Rückkehrrecht für Nachfahren oft mit europäischen Pässen herkamen, nicht in der Gemeinde registriert sind. Und Kinder der Väter! Es gibt sie überall, ihren jüdischen Alltag leben sie vielsprachig zwischen Neukölln, Mitte, Prenzlauer Berg und anderswo, es gibt Freundschaften, jüdische Feste, Debatten, Kulinarisches, Kultur, Hochzeiten, Geburten, auch Gebete. 14 Synagogen gibts in Mitte, Kreuzberg, Charlottenburg, Prenzlauer Berg, jetzt sogar eine in Steglitz, dazu private Betstuben und Betkreise in Wohnungen und gemieteter Location… Für Religion ist gesorgt, die Traditionen werden geliebt, aber die Kommunikation ist weder inklusive noch weitreichend. Meine Altersgruppe geht sowieso leer aus, zudem trennen Ost/West bis heute. Je älter ich werde, desto mehr fehlen mir die Verstorbenen, meine politisch sozialisierten jüdischen Vertrauten, ihr Humor, ihre Streitlust, intellektuelle Gemeinsamkeiten, unsere Lebensweise, der Austausch über Erfahrungen mit Exil und Rückkehr in die DDR.
Beschreiben Sie Ihr Leben in Berlin in drei Adjektiven.
Ausgewogen, einladend, neugierig.
Was würden Sie sich für das zukünftige jüdische Leben in Berlin wünschen?
Die Zukunft ist unausweichlich. Wer das Jüdische auf die Finsternis der Schoa reduziert, verdeckt das erstrahlende junge jüdische Leben. Berlin sollte sich auf eine selbstbewusste, widersprüchliche, vielschichtige jüdische Bevölkerung einstellen, auf Zuzug, nicht auf eine hohe Geburtenrate. Die Schoa sollte alles jüdische Selbstverständnis vernichten, doch in Berlin können jüdische Kinder von säkular über liberal, konservativ, orthodox bis chassidisch wieder jüdische Schulen und Kitas besuchen. Das Jüdische lässt sich erlernen, erleben, hören, schmecken, lesen, singen, aber ohne die gelebte Tradition bleiben Herkunft und Geschichte toter Lehrstoff. Was mir fehlt ist viel mehr sympathische jüdische „Elite“, die sich intellektuell und praktisch, laut, offen, beherzt, alltäglich, intim, religiös, kulturell, kritisch einmischt, Herausforderungen nachspürt, sich auch jenseits des Jüdischen engagiert. Berlin ist eine große Stadt. Seit kurzem entwickelt sich die bunte jüdische Lebenswirklichkeit an vielen Ecken. Gibts dafür genug Neugier, Respekt, Freiräume und Schutz?
Zitierempfehlung:
Jüdisches Museum Berlin (2021), Irene Runge. Kurzinterview und Foto von der Ausstellungseröffnung Frédéric Brenner – ZERHEILT.
URL: www.jmberlin.de/node/8407