Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

1933

< 12. MAI 1933
15. MAI 1933 >

Freitag,
12. Mai 1933

Brief des Verlags Rudolf Mosse an einen ehemaligen Abonnenten

Wer mag der »Hochwohlgeborene« gewesen sein, der im Mai 1933 sein Abonnement beim »Berliner Tageblatt« abbestellt hatte und nun vom Rudolf Mosse Verlag diesen Brief erhielt, mit dem nachdrücklichen Appell, seine Entscheidung zu überdenken? Das werden wir leider wohl nie in Erfahrung bringen. Denn eine Begründung für den Entschluss des Lesers ist nicht überliefert und es ist durchaus fraglich, ob eine solche überhaupt verfasst wurde. Dessen ungeachtet stellt der Verfasser des Briefs eigene Vermutungen über die Motive an, die er im Anschluss mit ausgesprochener Höflichkeit zu widerlegen sucht.

Um den werten Abonnenten zur erhalten, bot die Verlagsdirektion ihm das »Tageblatt« vorübergehend kostenlos an, damit er eine Vergleichsmöglichkeit im Dickicht der nunmehr stark veränderten deutschen Presselandschaft habe. Interessant ist das Selbstverständnis, dass die Zeitung nach wie vor im Ausland hochangesehen sei und durch eine angedeutete kritische Berichterstattung dazu beitragen könne, dass Deutschland nicht »in eine geistige Isolierung gerät«.

Das seit 1872 erscheinende »Berliner Tageblatt« war jahrzehntelang die führende liberale Zeitung in Deutschland. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gerieten der Verlag und der verlegerische Leiter der Zeitung, Hans Lachmann-Mosse, Schwiegersohn des Firmengründers Rudolf Mosse, schnell unter Druck. Innerhalb von drei Monaten sahen sich viele der führenden jüdischen Mitarbeiter genötigt, Deutschland zu verlassen. Mitte Februar floh der Theaterkritiker Alfred Kerr nach Prag, zwei Wochen später der Chefredakteur Theodor Wolff in die Schweiz. Der Ressortleiter für Innenpolitik Ernst Feder ging, wie auch Hans Lachmann-Mosse selbst, nach Paris ins Exil. In den folgenden Monaten verließen weitere Mitarbeiter das Land, während diejenigen, die zunächst in Deutschland blieben, entlassen wurden.

So war die Verlagsleitung, als am 12. Mai dieser Brief verfasst wurde, längst eine andere. Ihr Lavieren zwischen journalistischer Unabhängigkeit und handfestem politischen Druck ist zwischen den Zeilen bemerkbar. Der Beschluss, alle Betriebe des Verlegers in eine gemeinnützige Stiftung zu geben, deren Überschüsse dann »den Opfern des Weltkrieges ohne Unterschied der Konfessionen zugute kommen« sollten, war keineswegs hochherziger Natur, sondern ein auferlegter Zwang.

Gleichgeschaltet und gebändigt gewährten die Nationalsozialisten dem »Berliner Tageblatt« dennoch einen schmalen Grat der Unabhängigkeit. Bis Ende Januar 1939 ist es erschienen.

Aubrey Pomerance

Kategorie(n): Berlin | Journalisten
Brief des Verlags Rudolf Mosse an einen ehemaligen Abonnenten, Berlin, 12. Mai 1933
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