Wer mag der »Hochwohlgeborene« gewesen sein, der im Mai 1933 sein Abonnement beim »Berliner Tageblatt« abbestellt hatte und nun vom Rudolf Mosse Verlag diesen Brief erhielt, mit dem nachdrücklichen Appell, seine Entscheidung zu überdenken? Das werden wir leider wohl nie in Erfahrung bringen. Denn eine Begründung für den Entschluss des Lesers ist nicht überliefert und es ist durchaus fraglich, ob eine solche überhaupt verfasst wurde. Dessen ungeachtet stellt der Verfasser des Briefs eigene Vermutungen über die Motive an, die er im Anschluss mit ausgesprochener Höflichkeit zu widerlegen sucht.
Um den werten Abonnenten zur erhalten, bot die Verlagsdirektion ihm das »Tageblatt« vorübergehend kostenlos an, damit er eine Vergleichsmöglichkeit im Dickicht der nunmehr stark veränderten deutschen Presselandschaft habe. Interessant ist das Selbstverständnis, dass die Zeitung nach wie vor im Ausland hochangesehen sei und durch eine angedeutete kritische Berichterstattung dazu beitragen könne, dass Deutschland nicht »in eine geistige Isolierung gerät«.
Das seit 1872 erscheinende »Berliner Tageblatt« war jahrzehntelang die führende liberale Zeitung in Deutschland. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gerieten der Verlag und der verlegerische Leiter der Zeitung, Hans Lachmann-Mosse, Schwiegersohn des Firmengründers Rudolf Mosse, schnell unter Druck. Innerhalb von drei Monaten sahen sich viele der führenden jüdischen Mitarbeiter genötigt, Deutschland zu verlassen. Mitte Februar floh der Theaterkritiker Alfred Kerr nach Prag, zwei Wochen später der Chefredakteur Theodor Wolff in die Schweiz. Der Ressortleiter für Innenpolitik Ernst Feder ging, wie auch Hans Lachmann-Mosse selbst, nach Paris ins Exil. In den folgenden Monaten verließen weitere Mitarbeiter das Land, während diejenigen, die zunächst in Deutschland blieben, entlassen wurden.
So war die Verlagsleitung, als am 12. Mai dieser Brief verfasst wurde, längst eine andere. Ihr Lavieren zwischen journalistischer Unabhängigkeit und handfestem politischen Druck ist zwischen den Zeilen bemerkbar. Der Beschluss, alle Betriebe des Verlegers in eine gemeinnützige Stiftung zu geben, deren Überschüsse dann »den Opfern des Weltkrieges ohne Unterschied der Konfessionen zugute kommen« sollten, war keineswegs hochherziger Natur, sondern ein auferlegter Zwang.
Gleichgeschaltet und gebändigt gewährten die Nationalsozialisten dem »Berliner Tageblatt« dennoch einen schmalen Grat der Unabhängigkeit. Bis Ende Januar 1939 ist es erschienen.
Aubrey Pomerance
VERLAG RUDOLF MOSSE
DIREKTION
BERLIN SW100
Euer Hochwohlgeboren!
Ihre Entschliessung, das »Berliner Tageblatt« abzubestellen, ist uns sehr schmerzlich, denn wir haben im Leser immer irgendwie den Kameraden und Freund gesehen und den wirtschaftlichen Zusammenhängen dabei weniger Bedeutung beigemessen. Wir wären Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie uns eine kurze Mitteilung zukommen lassen würden, warum Sie diesen Schritt getan haben. Wahrscheinlich auf Grund unhaltbarer Gerüchte und Redereien, die wir ohne weiteres in einer Sie befriedigenden Weise widerlegen können.
Oder glauben Sie, dass unter den heutigen Umständen andere Presserzeugnisse Ihre Interessen besser vertreten können? Wir werden Ihnen gerne, wenn Sie sich nicht zu einer sofortigen Erneuerung des Abonnements entschliessen können, das »Berliner Tageblatt« eine Zeit lang kostenlos zusenden, damit Sie in der Lage sind, Vergleiche anzustellen. Diese werden bestimmt nicht zu Ungunsten des »Berliner Tageblatt« ausfallen, besonders wenn man bedenkt, dass diese Zeitung infolge ihres grossen Einflusses im Auslande ihre Gesamtpolitik auf eine Linie stellen muss, die es verhindert, dass Deutschland in eine geistige Isolierung gerät. Manches Wort der Kritik kann daher nicht so scharf gesagt werden, wie es vielleicht andere äussern können, die weniger Verantwortung tragen. Dafür wiegt aber jedes der Worte hier um so schwerer.
Sollte man Ihnen erzählt haben, wir seien ans Reich, an Hitler, an Hugenberg, an Papen oder sonst wohin verkauft worden, so hat Ihr Gewährsmann gelogen. Richtig ist, dass der Verleger des »Berliner Tageblatt« in hochherziger Weise seine sämtlichen Betriebe einer gemeinnützigen Stiftung übergeben hat, deren Überschüsse auf 15 Jahre den Opfern des Weltkrieges ohne Unterschied der Konfession zugute kommen. Diese Stiftung wird in Form einer G.m.b.H. verwaltet, deren Geschäftsführung vollkommen unabhängig ist.
Wir würden uns freuen, bald von Ihnen zu hören und stehen Ihnen zu jeder weiteren Aufklärung gern zur Verfügung.
Mit vorzüglicher Hochachtung
VERLAG RUDOLF MOSSE
Direktion
i.V. (Unterschrift)
12. Mai 1933