Seit Rudolf Rülf (1890–1968) aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt ist, praktiziert er als Zahnarzt in Wolfenbüttel. Doch jetzt ist der Fortbestand seiner Praxis bedroht. Mit Schreiben vom 14. Juli hatte ihm die Kassenärztliche Vereinigung Braunschweig die Kassenzulassung entzogen, da der von ihm geleistete »Kriegsdienst an der Front« nicht »der vorgeschriebenen Dauer« entspreche. Zwei Wochen hat er Zeit, beim Reichsminister für Arbeit Widerspruch einzulegen. Die Kassenvereinigung hatte ihm allerdings abgeraten, umfangreich Stellung zu nehmen, da dies »entbehrlich« sei, »den Geschäftsgang« erschwere und sich »zum Nachteil« auswirken könne.
Zu Beginn seines Briefes stellt Rülf die lange Ansässigkeit seiner Familie heraus. Detailliert schildert er dann seinen militärischen Werdegang: Nachdem er sich zunächst als Freiwilliger gemeldet hatte, aber nicht angenommen worden war, wurde er im November 1914 eingezogen. Er leistete Kriegsdienst bis Dezember 1918, in den letzten Kriegswochen in Feldlazaretten in Nordfrankreich. Rülf stellt fest, dass er somit Frontkämpfer sei und die Frontkämpfer-Klausel auch für ihn gelte.
Das Reichsarbeitsministerium lehnte seinen Widerspruch trotzdem ab und teilte mit, dass sein Kriegsdienst »nicht als eine, Ihre nichtarische Abstammung hinreichend ausgleichende Tätigkeit an der Front« angesehen werden könne. Dieser Beschluss kam einem Berufsverbot gleich. Rudolf Rülf emigrierte mit seiner Familie 1934 nach Palästina. Die Inneneinrichtung und Instrumente seiner Zahnarztpraxis nahm er mit.
Jörg Waßmer
Dr. Rudolf Rülf
Zahnarzt
Wolfenbüttel, den 27.7.33.
An den Herrn Reichsarbeitsminister
Berlin
durch den
Verband der Aerzte Deutschlands
Leipzig.
Nach einem mir am 15. Juli d.J. zugegangenen Bescheid ist mir von der kassenärztlichen Vereinigung des Freistaates Braunschweig meine weitere Zulassung zur Tätigkeit bei den Krankenkassen abgelehnt worden, da ich meinen Kriegsdienst an der Front in der vorgeschriebenen Dauer nicht nachweisen könne.
Ich lege hiergegen Beschwerde ein und begründe diese wie folgt:
Ich bin geboren in Braunschweig am 21.8.1890. Mein Vater war 33 Jahre lang Landesrabbiner in Braunschweig. Meine väterliche Familie war nachweisbar seit mindestens 130 Jahren in Kurhessen ansässig.
Ich habe mich im August 1914 in Würzburg als Freiwilliger gemeldet, wurde aber wegen allgemeiner Körperschwäche zurückgestellt. Am 20. November 1914 wurde ich als Ersatzreservist eingezogen und, da ich wegen meines schwächlichen Zustandes – ich war von Kindheit an nierenleidend – nicht felddienstfähig war, zum Militärkrankenwärter bestimmt. Auf meinen Wunsch wurde ich zwar eine Zeit lang mit der Waffe ausgebildet, musste aber dann doch als Krankenwärter in Heimatlazaretten Dienst tun. Erst am 11.10.1918 kam ich, versetzt zum Reserve-Feldlazarett 38, ins Feld. Da das R.F.L. 38 nicht gleich aufzufinden war, kam ich zunächst zum R.F.L. 37 in Prisches bei Landrecies und tat dort Dienst. Dies Lazarett musste in jenen Tagen wegen starker Beschießung im Laufe der Rückverlegung der Front zurückgenommen werden. Am 19.10. fand ich mein R.F.L. 38, wurde aber, da dieses
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zur Zeit nicht eingesetzt war, alsbald wieder zum R.F.L. 37 abkommandiert, das inzwischen in St. Hilaire sur Helpe bei Avesnes eingesetzt war. Dort arbeitete ich bis zum 5. Nov. auf der chirurgischen Station (Stabsarzt Dr. Kroh). Danach kam ich wieder zum R.F.L. 38 zurück. Auch dieses war weiterhin während des Rückzuges in die Antwerpen-Maaßstellung noch einige Tage bis zum Waffenstillstand und zwar als Verwundetensammelstelle eingesetzt.
In meinem Militärpass (s. Anlage) sind als mitgemachte Gefechte verzeichnet:
9.10. – 4.11.18 Kämpfe vor und in der Hermannstellung (südl. Le Cateau)
5.11. – 11.11.18 Rückzugskämpfe von der Antwerpen-Maaßstellung
ab 12.11. – 20.12.18 Räumung des besetzten Gebietes und Marsch in die Heimat.
Eine Auskunft des Reichsarchivs in Potsdam darüber, dass die angeführten Lazarette s.Z. im Frontdienst arbeiteten, habe ich angefordert, aber infolge der Arbeitsüberlastung des Archivs (s. anliegende Karte) noch nicht erhalten können.
Ich füge als vorläufigen Beleg eine Bescheinigung des damaligen Chefarztes des R.F.L. 37, Herrn Generaloberarzt d.R.a/D. Dr. Strecker, z.Z. in Hannover ansässig, bei.
Hiermit dürfte der Nachweis, dass ich an der Front Kriegsdienst getan habe, geführt sein. Eine bestimmte Dauer des Dienstes an der Front ist m.W. in den gesetzlichen Bestimmungen nicht vorgeschrieben, vielmehr ist nach § 3 der Verordnung vom 6.4.33 R.G.Bl.I, S. 247, Abs. 1 »Frontkämpfer im Sinne des Gesetzes, wer im Weltkriege in der Zeit vom 1.8.14 bis 31.12.18 bei der fechtenden Truppe an einer Schlacht, einem Gefecht, einem Stellungskampf oder einer Belagerung teilgenommen hat.«
Ich bitte daher, dahin zu entscheiden, dass auf mich der § 2 der Verordnung über die Tätigkeit von Zahnärzten und Zahntechnikern bei den Krankenkassen vom 2. Juni 1933 Abs. 1 zutrifft, und dementsprechend den Beschluss der Braunschweiger Kassenärztlichen Vereinigung aufzugeben.
Ergebenst