Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

1933

< 27. AUGUST 1933
1. SEPTEMBER 1933 >

Donnerstag,
31. August 1933

Brief von Arthur Czellitzer an Wilhelm Nussbaum, Gründer der Arbeitsgemeinschaft für jüdische Erbforschung und Eugenik

Im August 1933 rief der Berliner Gynäkologe Dr. Wilhelm Nussbaum (1908–1975) die »Arbeitsgemeinschaft für jüdische Erbforschung und Eugenik« ins Leben. Schon im Studium hatte er sich eingehend mit Rassenkunde und Fragen der Erbgesundheit (Eugenik) beschäftigt. Nun plante er eine Erhebung mit 1.000 Juden, um die vermeintlichen körperlichen Besonderheiten der jüdischen Bevölkerung in Deutschland zu untersuchen. Nussbaum fragte überall im Land Institutionen, aber auch Einzelpersonen um Unterstützung an. Dazu zählte Dr. Arthur Czellitzer (1871–1943), Vorsitzender der »Gesellschaft für jüdische Familienforschung«, der seinerseits über die Bedeutsamkeit der Eugenik geschrieben hatte.

Nussbaum hatte Czellitzer gebeten, Fragebögen für die Untersuchung zu entwickeln. In seiner Antwort vom 31. August äußerte Czellitzer Bedenken, weil das Vorhaben nicht von der Regierung genehmigt sei und es zu seiner Umsetzung sowohl an geeignetem Personal als auch an Geld mangele. Er wollte deshalb Nussbaums Arbeitsgemeinschaft auch keinen Zugang zu der umfangreichen Sammlung von Ahnentafeln deutscher Juden, die die Gesellschaft für jüdische Familienforschung in den Jahren zuvor zusammengetragen hatte, geben. Nussbaum hatte gehofft, mit Hilfe der Tafeln genetische Eigenheiten jüdischer Familien über Generationen hinweg zurückverfolgen zu können.

Wilhelm Nussbaum versuchte, die von seinem Kollegen Czellitzer benannten Probleme rasch zu lösen. Es gelang ihm, ein kleines Team von Praktikanten zusammenzustellen – zumeist jüdische Medizinstudenten – und die Unterstützung etlicher jüdischer Institutionen und Repräsentanten zu gewinnen, darunter Rabbiner Leo Baeck. Zudem wurde das Projekt von der deutschen Regierung offiziell bewilligt.

Im Lauf der folgenden zwei Jahre untersuchte die Arbeitsgemeinschaft über 1.100 Juden, hielt ihre Körpermaße, ihre Hautfarbe und ihre psychologische Vorgeschichte fest. Nussbaum wertete die Daten in seinem Büro im Jüdischen Krankenhaus Berlin selbst aus. 1935 war klar, zu welchem Ergebnis seine Untersuchung führte: Juden waren als Teil der »indo-europäischen Rasse« zu betrachten (ebenso wie die »deutsche Rasse«) – was bedeutete, dass sie den Menschen in ihrer Umgebung in keiner Hinsicht unterlegen waren. An diesem Punkt untersagte ihm die Gestapo die weitere Forschung.

Nussbaum emigrierte nach New York und arbeitete dort unter dem Ethnologen Franz Boas an der Fakultät für Anthropologie der Columbia-Universität. Da die physische Anthropologie jedoch zunehmend unpopulär wurde, verlor er den Großteil seiner Fördermittel. Er verließ die Universität und eröffnete eine gynäkologische Praxis in Queens. Nussbaum starb 1985.

Arthur Czellitzer floh 1938 in die Niederlande, doch es gelang ihm nicht, Europa zu verlassen. Er wurde 1943 in Sobibor ermordet..

Michael Simonson (Leo Baeck Institute)

Kategorie(n): Ärzte | Auswanderung | Wissenschaftler
Brief von Arthur Czellitzer an Wilhelm Nussbaum, Berlin, 31. August 1933
Leo Baeck Institute, William Nussbaum Collection, AR 10750

Nussbaums Forschungsprojekt

Seit dem 19. Jahrhundert beteiligten sich Juden wie Nichtjuden an eugenischer Forschung und Rassenlehre. Nussbaum, der sich als Gynäkologe mit Fragen des gesunden Nachwuchses befasste, interessierte sich besonders dafür, die angeborenen Eigenschaften zu erforschen.

1934 und 1935 führten Nussbaum und sein kleines Team Untersuchungen in ganz Deutschland durch, wobei sie sich besonders auf die süddeutschen Städte Burgkunstadt, Göppingen und Würzburg konzentrierten. Dort glaubte Nussbaum körperliche und mentale Eigenheiten von Juden in besonders ursprünglicher Form anzutreffen, da in diesen Orten die Vorfahren mancher Juden bereits zu römischer Zeit eingewandert waren. Die Untersuchungen wurden in Schulen, Kinderheimen, Krankenhäusern und Altersheimen vorgenommen. Man dokumentierte körperliche Merkmale wie die Länge der Lippen, der Nase, der Stirn, die Augen-, Haar- und Hautfarbe. Jeder Proband wurde frontal und im Profil fotografiert. Manche von ihnen erhielten Fragebögen zur psychologischen Vorgeschichte der Familie oder wurden um einen Stammbaum gebeten. Auffälligkeiten wie Schizophrenie, Alkoholismus, Diabetes und kriminelles Verhalten wurden über Generationen hinweg zurückverfolgt. Spezielle Aufmerksamkeit schenkte man Zwillingspaaren.

Die Nationalsozialisten aber hielten die Minderwertigkeit der Juden bereits für erwiesen. Für Nussbaum muss es entmutigend gewesen sein, dass seine auf Forschung begründeten Belege für die rassische Gleichwertigkeit vom Regime nicht anerkannt wurden – und dass die Nürnberger Gesetze von 1935 dessen Haltung unumstößlich festschrieben.

Blatt mit zwei Fotografien eines jüdischen Mädchens, entstanden im Rahmen der eugenischen Studien von Wilhelm Nussbaum, 1930er Jahre.
Leo Baeck Institute, William Nussbaum Collection, AR 10750 
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