Mitte April 1933 fuhr der Augenarzt Ernst Rosenthal (1898–1971) nach Madrid, um am XIV. Concilium Ophtalmologicum teilzunehmen, bei dem die Themen »Tuberkulose der Iris und der Corpus ciliare« sowie »Netzhautablösung« im Vordergrund standen. Dem in Chemnitz tätigen Mediziner war im Rahmen des Boykotts vom
1. April der Zugang zu seinen Patienten im Zimmermann’schen Sanatorium verwehrt worden. Der internationale Kongress bot ihm eine sicherlich willkommene Gelegenheit, Vorträge von hochrangigen Vertretern seines Faches zu hören und sich mit Kollegen aus der ganzen Welt auszutauschen. Kein außergewöhnlicher Vorgang.
Einen Monat nach seiner Rückkehr wurde Ernst Rosenthal am 23. Mai in Chemnitz in »Schutzhaft« genommen und im Polizeipräsidium festgehalten. Der Grund: Sein Auslandsaufenthalt in Madrid. Um seine Freilassung zu erwirken, wandte sich Ernst Rosenthal am 25. Mai schriftlich an den Direktor der Universitäts-Augenklinik in Berlin, Professor Emil Krückmann, der die deutsche Delegation beim Madrider Kongress geleitet hatte, mit der Bitte seine Teilnahme zu bescheinigen.
Offenbar hatte die Polizei einen Beweis für seine Anwesenheit bei der Konferenz gefordert. Emil Krückmann bestätigte dies unmittelbar nach Erhalt des Briefes von Ernst Rosenthal, den er offenbar aus seiner Zeit als Assistenzarzt in Berlin kannte. Die Bescheinigung kam am 29. Mai im Polizeipräsidium an. Dort hatte man jedoch bereits zwei Tage zuvor entschieden, Rosenthal aus dem Gefängnis zu entlassen. Dieser Vorfall veranschaulicht die absolute Willkür der Behörden, der die Juden in Deutschland ausgesetzt waren. Für Ernst Rosenthal war es keineswegs das Ende seiner Verfolgung und Diskriminierung.
Aubrey Pomerance
Schreiben von Dr. Ernst Rosenthal an Prof. Emil Krückmann:
Chemnitz, den 25/V. 33.
Sehr geehrter Herr Geheimrat!
Seit einigen Tagen befinde ich mich hier in Schutzhaft, weil ich an der internat. Tagung des Augenkongresses in Madrid teilgenommen habe. Ich wende mich heute an Sie, sehr geehrter Herr Geheimrat, als den Leiter der deutschen Delegation mit der höflichen Bitte, mir zu bescheinigen, daß Sie mich auf dem Kongress gesehen haben. Wenn Sie für mich bei den zuständigen amtlichen Stellen des Ministeriums intervenieren könnten, wäre ich Ihnen zu ganz besonderem Dank verpflichtet.
Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung bin ich Ihr sehr ergebener
E Rosenthal
Absender: Dr. Ernst Rosenthal
z. Zt. Schutzhaft
Polizeipräsidium
Chemnitz
Schreiben von Prof. Emil Krückmann an Dr. Ernst Rosenthal:
Berlin, den 27. Mai 1933
Herrn
Dr. Rosenthal,
früherer Assistent des Herrn Dr. Hildesheimer in Berlin. (zur Zeit Schutzhaft Polizeipräsidium
Chemnitz/Sachsen).
Urschriftlich beantworte ich Ihren Brief folgendermaßen: Als Vertreter des Deutschen Reiches bestand meine Aufgabe nicht allein in der Repräsentation, in dem Halten von Ansprachen und in der Erhaltung und Verbesserung von internationalen Gegenseitigkeitsbeziehungen, sondern auch darin, dass ich mich um die einzelnen Reichsdeutschen zu kümmern hatte. Infolgedessen habe ich Gelegenheit genommen, tunlichst mit jedem einige Worte zu wechseln. Dies war auch bei Ihnen der Fall und so erkläre ich Ihnen hiermit, dass ich Ihre Anwesenheit in den Kongressräumen an mehreren (verschiedenen) Tagen bemerkt und durch kleine Unterhaltungen zum Ausdruck gebracht habe.
Dieses Schriftstück können Sie als ein amtliches benutzen.
(Unterschrift Prof Krückmann)
Direktor der Univ.-Augenklinik.
(Stempel der Universitätsklinik für Augenheilkunde Berlin)