Mittwoch,
6. September 1933
Brief von Hans Lustig an seinen Lehrer Robert Raphael Geis
Es sind spannende Neuigkeiten, die der 11-jährige Hans Lustig (1922–2002) seinem Religionslehrer Dr. Robert Raphael Geis (1906–1972) zu erzählen hat. Viel ist passiert, seitdem die beiden sich das letzte Mal gesehen haben; und Hans bedauert es, dass er sich nicht persönlich von Geis verabschieden konnte. Jetzt sprudelt es aus ihm heraus und er lässt den – seit 1932 in München amtierenden – Jugendrabbiner an seinen Erlebnissen teilhaben.
Zunächst berichtet Hans von der Zugfahrt, die am 25. August in seiner Heimatstadt München begann. Vielleicht war die Aufregung daran schuld, dass er sich anfänglich nicht wohl fühlte. Ab Innsbruck stand er dann am Fenster. Die vielen Eisenbahntunnel auf dem Weg zum Brenner waren viel zu spannend. Ganz zu schweigen von der Pass- und Gepäckkontrolle an der italienischen Grenze. Weiter ging es mit der Bahn nach Bozen – und am nächsten Tag nach Oberbozen. Voller Begeisterung erzählt und zeichnet Hans, wie er mit seiner älteren Schwester Herta einen Hang hinunterrutscht und dass sein 5-jähriger Bruder Franz einen Frosch gefangen hat. Er berichtet auch von der »kleinen Laubhütte«, die die Familie für das bevorstehende Fest Sukkot gebaut hat. Und dann ist da noch das Zelt! Damit sich »Herr Dr. Geis« auch davon ein Bild machen kann, illustriert Hans seinen Brief mit einer weiteren Zeichnung: Zwischen zwei Tannen steht ein Zelt, gekrönt von einer Fahne in den Farben des Zionismus. Das Strichmännchen rechts, das auf das Zelt zu rennt, ist Hans, während sich im Innern zwei Freunde aufhalten, von denen einer zwischenzeitlich »schon abgereist« ist.
Der Eindruck, Hans berichte von einem normalen Familienurlaub in Südtirol, täuscht. In Wirklichkeit hatte die Familie Deutschland für immer verlassen. Der Vater Bernhard Lustig (1884–1969), der im Ersten Weltkrieg gemeinsam mit Hitler im Königlich Bayerischen 16. Reserve-Infanterie-Regiment gedient hatte, gehörte der Zionistischen Bewegung an. Früh hatte er die Zeichen der Zeit erkannt und sich gemeinsam mit seiner Frau Paula, geb. Futter (1886–1965), entschieden, nach Palästina auszuwandern. Offenbar gelang es den Eltern, ihren Kindern selbst auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft unbeschwerte Stunden zu ermöglichen.
Jörg Waßmer