Einen Tag nach dem so genannten Aprilboykott wendet sich der Ministerialrat im preußischen Innenministerium Fritz Rathenau (1875–1949) in einem Brief an den Historiker und Theologen Otto Scheel (1876–1954), den er seit Jahren kennt und schätzt.
Rathenau, ein Cousin des früheren Außenministers Walther Rathenau, der 1922 von Rechtsextremisten ermordet worden war, zeigt sich tief bestürzt über die politischen Vorgänge und den Hass, der den deutschen Juden entgegenschlägt. Aus seinen Zeilen spricht große Fassungslosigkeit: Seit über 38 Jahren ist er preußischer Staatsbeamter mit »makelloser Dienstzeit« – jetzt sieht er sich und seine Söhne zu »Parias erklärt und verfolgt.«
Bei aller Bestürzung über seine persönliche Situation überwiegt jedoch Rathenaus allgemeine Sorge um Deutschland: Er befürchtet, dass die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden sich nachteilig auf die deutsche Wirtschaft auswirken und auch das Bild Deutschlands im Ausland unwiederbringlich beschädigen wird.
Im zweiten Teil seines Briefes spricht er dann vor allem Otto Scheel als Theologen an. Die religiöse Toleranz betrachtet Rathenau als eine der wichtigsten Errungenschaften der Neuzeit und als preußisches »Kulturgut«. Umso größer ist sein Unverständnis für das Schweigen der beiden großen Kirchen zu der antisemitischen Politik der neuen Regierung. Trotz seiner Verzweiflung zeigt er sich aber auch kämpferisch: »heute muss ich als ›fremdrassig‹ den Platz räumen. Ich tue es stolz und ungedemütigt.«
Wenige Wochen später, am 20. Mai wurde Rathenau seines Amtes enthoben. Zunächst wurde er in die Bau- und Finanzdirektion versetzt, bevor er im Januar 1935 zwangspensioniert wurde.
Ob er mit seinem Brief bei Otto Scheel auf Sympathie und Verständnis stieß, ist fraglich. Scheel, der in der Weimarer Republik der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) angehört hatte, trat im Mai 1933 in die NSDAP ein. In den Folgejahren spielte er eine aktive Rolle in der nationalsozialistisch ausgerichteten Geschichtswissenschaft.
Lea Weik
Eure Maginifizenz
dem Herrn Rektor der Universität
Prof. Dr. Otto Scheel
Kiel.
2. April 1933.
Sehr verehrter Herr Professor!
Haben Sie aufrichtigen Dank für die so freundliche Sendung Ihrer wundervollen Arbeit über Ihre Heimatprovinz. Ich habe sie zu lesen begonnen und bin aufsstärkste beeindruckt von der Klarheit und Wucht der Darstellung, die so vorteilhaft unterstützt wird durch die ausgezeichneten Bildbeigaben.
Dieses Studium bringt mich auf Augenblicke hinweg über die tiefe Trauer, die ich vom nationalen Standpunkt aus über die Entwicklung der Dinge empfinde. Ich will kein Wort darüber verlieren, dass man dem Judentum als Ganzem bitter unrecht tut, wenn man ihm alle Schuld an dem deutschen Unglück zuschiebt. Ich will auch nicht klagen und anklagen, weil ich als Jude der Voreingenommenheit und Befangenheit geziehen werden könnte; ich will völlig ausser acht lassen, was man mir nach 38 ½-jähriger und – wie ich glaube – makelloser Dienstzeit für Staat und Reich antut, was man meinen Söhnen, ehrenhaften Menschen, zufügt, wenn man uns alle als Parias erklärt und verfolgt. Was ich aber nicht verwinden, ja nicht einmal verstehen kann, ist dies, dass man selbst einer Bewegung, die Grosses erstrebt und erreichen könnte, durch diese, in der Welt neuartige, Verfolgung einen materiellen und ideellen Schaden zufügt, wie es die Juden gar nicht tun könnten. Die wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Vorgehens sind – wie mir tagtäglich von nichtjüdischer Seite bestätigt wird und wie es wohl auch an massgebendsten amtlichen Stellen dargetan wurde – völlig unausdenkbar und
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unübersehbar! Sie treffen Juden und Nichtjuden, und damit das deutsche Volk als Ganzes! Und wenn sie zwangsläufig eintreten, ohne dass die Juden dazu etwas getan, ja trotzdem sie alles getan haben, um dies zu verhindern, … an dem, dann die Gesamtheit heimsuchenden Schaden sind nur die Juden schuld! Ein Ende dieser Beweisführung ist nicht abzusehen; darum sind auch einsichtige Nichtjuden so entsetzt, dass die ersten zarten Blüten wirtschaftlichen Aufschwungs zerstampft werden!
Dazu ein Zweites: religiöse Toleranz galt als eine der Errungenschaften der Neuzeit; das Altertum war intolerant. Wenn nun auch die neue Bewegung nicht die jüdische Religion, sondern die jüdische Rasse bekämpft, und wenn sie auch den »totalen Staat« erstrebt (»wir alle wollen aus Volk und Staat Eines machen«, so Goebbels am 31.3. d.J. [des Jahres]), so sollte es ihr doch nicht gelingen, das, was preussische Könige immer bewiesen und mit Stolz bekannt haben, gerade die Toleranz als Kulturgut, zu vernichten! Das muss letztenendes zu ihrem eigenen Schaden ausschlagen! Und deshalb wundere ich mich – wieder vom nationalen Standpunkt aus –, dass weder die protestantische noch die katholische Kirche Worte gefunden haben, um diesem Treiben Einhalt zu tun oder doch davor zu warnen! Allerdings höre ich – während ich diese Zeilen niederschreibe –, dass in den nächsten Tagen eine Bischofskonferenz in Fulda zu dieser Frage Stellung nehmen soll; mir ist aber nicht bekannt geworden, dass der Evangelische Oberkirchenrat sich zu diesem allgemein-kirchlichen Problem, das ja in jedem »totalen Staat« akut wird, geäussert hätte! Hier sehe ich Gefahren, die ich gerade Ihnen, sehr verehrter Herr Professor, nicht zu schildern brauche.
Bitte missverstehen Sie mich nicht! Ich spreche nicht pro domo [in eigener Sache]! Ich hielt mich nur für berechtigt, Ihnen, der Sie mich über ein Jahrzehnt kennen und den ich in dieser Zeit immer besonders hoch geschätzt habe, als Deutscher, der ich bin und bleibe, selbst wenn man mir dies abstreiten will, meine Besorgnisse darzulegen. Dies umsomehr, als nun wohl auch unsere beruflichen und – wie ich sagen darf – stets vertrauensvollen Beziehungen ein Ende finden werden. Aus vollem Herzen habe ich mit Ihnen dreizehn Jahre lang am
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Wiederaufbau Ihrer Provinz und in den letzten Jahren an den schwierigsten Problemen der Deutschtumspflege mitarbeiten dürfen, trotzdem ich … »Jude« bin; wir haben – auch das darf ich sagen – Erspriessliches, ja Wertvolles geleistet! Heute muss ich als »fremdrassig« den Platz räumen. Ich tue es stolz und ungedemütigt, in der Hoffnung, dass die, die nach mir kommen, dem deutschen Volke ebensowenig Schaden zufügen mögen, wie ich es getan habe!
Zu einem letzten Abschiedswort ist es heute noch nicht Zeit; ich darf es mir vorbehalten. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie diese Zeilen als den Ausfluss schwerster Sorge um Unser Vaterland, das auch das meine ist, auffassen und werten wollten.
Mit verbindlichsten Grüssen in alter Verehrung
Ihr
aufrichtig ergebener
gez: Dr. Fritz Rathenau.