Der Anfang vom Ende des deutschen Judentums

1933

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Mittwoch,
11. Oktober 1933

Grabrede von Rudolf Seligsohn für Bertha Lindenberg

Als am 11. Oktober 1933 Bertha Lindenberg in Oderberg zu Grabe getragen wurde, hielt der erst 23-jährige Rabbinerkandidat Rudolf Seligsohn (1909–1943) eine bemerkenswerte Trauerrede. Der Abschied von der in dem brandenburgischen Städtchen verwurzelten Frau Lindenberg war für ihn »Sinnbild eines anderen, größeren Abschiedes«. Ein Abschied von den jüdischen Gemeinden auf dem Land und in den Kleinstädten, die »den harten Kampf, den die deutschen Juden um ihr Dasein zu führen haben, (…) nicht aufnehmen können.«

Dieser Niedergang, der bereits ab Mitte des 19. Jahrhunderts infolge der einsetzenden Urbanisierung, der Anziehungskraft der Großstädte und der voranschreitenden Modernisierung begann, stellte für Rudolf Seligsohn den Verlust von hochgeschätzten Werten, von einer starken Verbundenheit mit dem Boden und von der Arbeit mit den Händen dar. Für ihn markierte der von ihm beschriebene Abschied das Ende der Bemühungen, durch den Erhalt der kleinen Gemeinden »die Fundamente des deutschen Judentums neu zu legen«. Und zugleich auch das Scheitern, durch Neuansiedlungen, »eine gesunde und gerechte Verteilung der Bekenner des Judentums in unserem Vaterland« erreichen zu wollen.

Obwohl Seligsohn nicht ahnen konnte, was die Zukunft bringen würde – »ob dem deutschen Judentum die Freiheit wiedererstrahlen wird – nur ein Prophet vermöchte es zu künden« –, betonte er in seiner Rede, dass sich das Judentum erneuern müsste, falls »sich die Pforten wieder öffnen«. Es konnte nicht mehr der Weg der Emanzipation des 19. Jahrhunderts sein, der »Weg zum reinen Geist, der Weg in die große Stadt«, sondern die Verwurzelung mit dem Land müsste Vorrang haben. Infolgedessen waren in der Verstorbenen und ihrer Familie »Repräsentanten des wahren Judentums« zu sehen, »des Judentums, das an seinem Boden haftet, wurzelecht, kraftvoll und stark, aufbauend, bewahrend und erhaltend«.

Die Beerdigung von Bertha Lindenberg, die »an einer Wende der Zeiten Abschied genommen hat«, war die letzte auf dem seit mindestens 1750 bestehenden jüdischen Friedhof in Oderberg. Während der NS-Zeit geschändet, gingen viele seiner Grabsteine verloren, während andere auf einem Haufen zusammengeworfen wurden. Nach Ende des Krieges fanden Aufräumungsarbeiten statt und etwa 40 Steine und Fragmente konnten wiedererrichtet werden – darunter auch die Stele für Bertha Lindenberg.

Aubrey Pomerance

Kategorie(n): Religiöses Leben | Schule
Grabrede von Rudolf Seligsohn für Bertha Lindenberg, Oderberg (Mark), 11. Oktober 1933
Leo Baeck Institute, Seligsohn Kroner Family Collection, AR 25128

Rudolf Seligsohn

Der in Berlin geborene und aufgewachsene Rudolf Seligsohn nahm 1928 sowohl ein Studium der klassischen Philologie an der Friedrich-Wilhelms-Universität als auch ein Rabbinerstudium an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums auf. 1934 erhielt er seine Promotion und seine rabbinische Ordination. Anschließend bekam er eine Stelle als Rabbiner in Bonn und heiratete 1935 Gerda Kroner. Neben seiner Tätigkeit als Rabbiner unterrichtete Seligsohn Latein, Geschichte und Geografie an der Jawne-Schule in Köln, dem einzigen jüdischen Gymnasium im Rheinland.

Infolge der Novemberpogrome bemühte sich die Leitung um die Verlegung der Schule nach England. Im Januar 1939 organisierte Rudolf Seligsohn den ersten von vier Transporten und begleitete 30 Kinder in die Freiheit. In London leitete er zusammen mit seiner Frau Gerda das Jawne-Hostel, wo die Kinder untergebracht waren.

Anfang 1940 trat Seligsohn in die Pioneer Corps der britischen Armee ein und gehörte einer vornehmlich aus deutschen und österreichischen Flüchtlingen zusammengesetzten Einheit an. Ein Jahr später bot ihm die American Jewish Congregation in New York eine Stelle als Rabbiner an, die er aber wegen des Krieges nicht annehmen konnte. So blieb er in England und wurde zum Corporal und anschließend zum Sergeant befördert.

Im Frühling 1943 erkrankte Rudolf Seligsohn an Meningitis und starb erst 34-jährig Ende April in Stratford-on-Avon, acht Monate nach der Geburt seiner Tochter Elisabeth. Die Trauerrede hielt der langjährige Düsseldorfer Rabbiner Max Eschelbacher, der selbst Ende Januar 1939 nach England geflohen war. »Da steht der Sarg, bedeckt mit dem Union Jack, seine Kameraden, englische Soldaten, halten ihm die Ehrenwache und werden ihn zu Grabe tragen. Wie fremd ist dieses Bild, und doch, wie vertraut. Ein Refugee wird zur letzten Ruhe geleitet von uns, seinen Schicksalsgenossen. Hier ersteht vor uns das erschütternde jüdische Schicksal unserer Tage, das doch zugleich das ewige jüdische Schicksal ist.«

Rudolf Seligsohn (links) mit seinem Lehrer Leo Baeck, zu dem er ein besonders enges Verhältnis hatte. Die Aufnahme entstand 1930 im Erzgebirge.
Leo Baeck Institute, Seligsohn Kroner Family Collection, AR 25128 
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