Als Harry (1899–1967) und Margarethe Heller (1892–1982) diesen Brief an Margarethes Eltern in Berlin schreiben, lebt das Ehepaar bereits seit mehr als einem halben Jahr in Schottland. Sie sind aus Berlin emigriert, weil Harry Heller als Jude seine Anstellung als Oberarzt im Krankenhaus am Friedrichshain verloren hatte.
In Schottland werden seine Qualifikationen allerdings nicht ohne weiteres anerkannt. Wie er seinen Schwiegereltern berichtet, muss er zunächst mehrere Prüfungen in verschiedenen medizinischen Fächern ablegen, um als Arzt an der Universitätsklinik in Edinburgh arbeiten zu dürfen. Er ist frustriert und hat das Gefühl, dass »das, was man an Routine und Erfahrung hat, langsam aus den Fingern schwindet«.
In ihrem Brief wechseln die Hellers zwischen Alltäglichem – etwa wenn sie den Eltern Lektüreempfehlungen geben – und Passagen, in denen sich die Situation der Emigranten widerspiegelt. Besonders bemerkenswert ist die Stelle, in der Harry Heller auf das aktuelle politische Geschehen eingeht – offenbar verfolgt er genau, was in Deutschland passiert. Für den Austritt des Deutschen Reichs aus dem Völkerbund am 14. Oktober äußert er Verständnis: »Jetzt können sie [Deutschlands Gegner] ja sehen, wohin sie mit ihrem Völkerbund kommen. Sie faseln hier viel von moralischer Isolierung. In Wirklichkeit sind sie die moralisch Isolierten.« Obwohl er und seine Familie Opfer des antisemitischen NS-Regimes sind, scheint seine Verbundenheit mit seinem Heimatland noch weitgehend ungebrochen.
Margarethe Heller beendet den Brief mit kurzen Grüßen an ihre Eltern und erwähnt, dass sie im Rundfunk die Übertragung des Reichstagsbrandprozesses verfolgt haben, der am 21. September in Berlin begonnen hatte. Der niederländische Kommunist Marinus van der Lubbe und seine angeblichen Hintermänner wurden beschuldigt, für den Brand des Reichstags am 28. Februar 1933 verantwortlich zu sein.
1934 verließ das Ehepaar Heller Großbritannien und emigrierte in das britische Mandatsgebiet Palästina, wo Margarethe bereits in den 1920er Jahren einige Zeit gelebt hatte. Harry Heller machte eine Karriere als Arzt und Wissenschaftler. Nach seinem Tod zog Margarethe Heller 1967 zu ihren beiden Söhnen nach Kalifornien.
Margarethes Vater, Adolf Brauer, starb bereits im Dezember 1933. Ihre Mutter Fanny konnte 1938 ihren Kindern nach Palästina folgen.
Lea Weik
17. Oktober 1933.
Meine Lieben,
es war richtig, den eingeschriebenen Brief nicht anzunehmen. Dr. H. befindet sich nicht in Berlin. Ebenso keine Sonderdrucke. Schade um das Porto.
Das Examen stellst du dir doch ein bisschen zu schlimm vor. Es stehen noch bevor eins im Januar, nämlich Public Health und Medical Jurisprudence und das eigentliche im Juni-Juli in innerer Medizin, Chirurgie, Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Nebenfächer. Wenn man wüsste, wozu, würde ich mir nichts daraus machen. So aber ist das eine andere Sache, und sich den manchmal recht hanebüchenen Unsinn anzuhören, während einem das, was man an Routine und Erfahrung hat, langsam aus den Fingern schwindet, ist nicht gerade angenehm.
Na also, G.S. hat’s geschafft, sogar ohne finanzielle Vorteile, wers glaubt, wird selig. Ich wundere mich über die Organisation der Massenabfahrten nach P[alästina]. Ich hätte das gar nicht für möglich gehalten.
Der Name des Verfassers von Alice im Wunderland ist Lewis Carroll. Das ist sein Künstlername. Vielleicht ist er in der Bibliothek unter seinem eigentlichen Namen Charles L. Dodgson aufgeführt.
Das Land des Lächelns habe ich jetzt gelesen. Ueber die Kritik selbst ist ja kein Wort zu verlieren. Die Tatsache der Aufführung dagegen finde ich nicht so gravierend. Ich halte das für eine ganz begrüssenswerte und überdies respektable Leistung, dass die Leute überhaupt drüben [gemeint ist Palästina] mit solchen Sachen anfangen. Man kann nicht erwarten, dass sie nun gleich die richtige Wahl treffen. Dazu sind sie eben zu ungebildet und natürlich zu schlecht beraten. Aber in jedem Fall ist nach meiner Meinung damit das Handwerkszeug geschaffen, mit dem sie einmal etwas besseres machen können. Die Kinderbeilage ist einfach blöd, sonst nichts. Die Führung der Gemeinde habe ich nicht gelesen. Von besonderer Langeweile dagegen erschien mir wiederum Hans Kohns Artikel. Ganz zu schweigen von manchen doch recht aggravierenden Formulierungen.
Sonst gibt es von uns nicht viel zu berichten. Wir sehen fast niemanden. Kürzlich war ich in einer Versammlung, in der man weidlich über Herrn MacDonald [Ramsay MacDonald, britischer Politiker] loszog. Die angenehmste Gesellschaft ist noch unser Pastor. Er forderte mich auf, ein paar Verse vom 40sten Kapitel Jesaja herzusagen, und ich war beschämt, dass ich nur die ersten Worte kannte. Ich glaube, dass es 18 Jahre her ist, dass ich so wenig H[ebräisch] konnte, als heute.
Politisch tut sich natürlich hier was. Wir Deutschen haben die Aktion der Reichsregierung natürlich mit Aufatmen begrüsst. Es war auch zu viel, was sich die Mächte hier rausgenommen hatten. Wenn du die Zeitungen lesen würdest (wir haben übrigens nichts geschickt, weil ich denke, es ist doch sprachlich zu schwierig für dich!), würdest du über die Heuchelei die Hände über den Kopf zusammenschlagen. Die Leute hier können natürlich gar nicht anders als jede deutsche Forderung verdächtigen. Wenn Deutschland um der Ehre willen Muster von allen Waffen verlangt, die die anderen Völker haben, heisst es natürlich gleich, sie wollen bloss die Fabriken haben, um nachher beliebig viel von den Waffen herstellen zu können. Und das zu einer Zeit, wo Deutschland ringsum von waffenstarrenden Nachbarn umgeben ist. Jetzt können sie ja sehen, wohin sie mit ihrem Völkerbund kommen. Sie faseln hier viel von moralischer Isolierung. In Wirklichkeit sind sie die moralisch Isolierten.
Das Wetter ist hier noch auffallend milde und gewöhnlich klar. Wir verstehen gar nicht, dass man uns dieses Land als so nordisch kalt geschildert hat.
Wir lasen neulich, dass ein Almanach im Schocken Verlag für 50 Pf[ennig] erschienen ist, mit Aufsätzen von Kafka, Scholem usw. Vielleicht kannst du ihn mal besorgen und uns zuschicken.
Herzliche Grüsse H[arry].
Meine Lieben,
ich will heute nur kurze Grüsse beifügen. Es geht uns nach wie vor sehr gut und wir leben nach wie vor einsam und ruhig. Ab und zu hören wir Radio, neulich mal eine Londoner Uebertragung von Cavalleria Rusticana und daran anschliessend Berlin, Neueste Nachrichten und die Reichstagsbrandübertragung.
Kennt Ihr Thacker[a]y’s Vanity Fair? Es ist ein ganz spannender Roman.
Unsere Anfrage wegen des Geldes war natürlich nicht so zu verstehen, dass es geschickt werden soll. Es interessierte mich nur, ob es angekommen ist.
Wie ist denn die Bemerkung über W. K. zu verstehen. Ist er bereits in P[alästina]?
Erich [gemeint ist Margarethes Bruder], hast du mal über das Papiergeschäft nachgedacht? Du hast uns darüber nichts geantwortet. Die Bemerkung N. war doch sehr interessant und man sollte eigentlich annehmen, dass man damit Erfolg haben müsste. Sprich doch mal ernstlich mit H.’s. Vielleicht solltest du die freie Zeit, die du doch wohl hast, dazu benutzen, dir in dem Geschäft einige Fachkenntnisse anzueignen. Es ist ja sehr schade, dass ich nicht da bin. Wir könnten das gut zusammenmachen. Aber vielleicht geselle ich mich später dazu.
Wie geht es euch gesundheitlich? Die 10 Pf. Touren sind sehr erfreulich, weil sie euch veranlassen, auch ein bisschen rauszukommen. – In den letzten Korrekturen schienen uns die Fussnoten sehr durcheinander. Ich hoffe, du hast darauf geachtet.
Indem ich auch alle sehr herzlich grüsse, bin ich eure G[rete].